Nüchtern per Gesetz

Türkisches Parlament verabschiedet umfangreiche Regelungen für ein Alkoholverbot

  • Jürgen Gottschlich
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein neues Gesetz führt in der Türkei zu einem öffentlichen Aufschrei. Nach 22 Uhr darf künftig kein Alkohol mehr ausgeschenkt werden, auch Werbung ist verboten. Noch fehlt die Unterschrift des Staatspräsidenten, aber die Tourismusbranche fürchtet bereits um Einnahmen.

Der Besitzer des kleinen Ladens im Istanbuler Stadtteil Kuzguncuk ist erbost. »Ich bin sicher, das ist erst der Anfang. In ein paar Jahren werden die Alkohol ganz verbieten. Das sind Islamisten, die können gar nicht anders«, sagt Murat Aydin, der eigentlich immer gut gelaunt ist. »Wenn der Präsident in den kommenden Tagen das Gesetz so unterschreibt, können wir bald dichtmachen«.

Das Gesetz um das geht, wurde am vergangenen Freitag im Parlament in Ankara auf Drängen von Ministerpräsident Tayyip Erdoğan verabschiedet. Es sieht die stärksten Restriktionen gegen den Verkauf, den Ausschank und die Werbung für Alkohol vor, seit die islamisch grundierte AKP vor nunmehr elf Jahren an die Regierung kam.

Nach dem Willen der AKP Mehrheit darf ab sofort nach 22 Uhr kein Alkohol mehr verkauft werden. Für Läden wie den von Murat Aydin, der sein wichtigstes Geschäft gerade am späten Abend mit Bier, Wein, Raki und den kleinen Speisen, die zu einem schönen Raki-Abend dazugehören, gemacht hat, ist das existenzbedrohend.

Viele andere Türken sehen das jedoch nicht so gelassen, denn die Restriktionen gehen weiter. Laut Gesetz ist zukünftig jede Werbung für Alkohol verboten, auch Schriftzeichen für Biermarken an Läden oder Sponsoring von Musikfestivals oder anderen Großveranstaltungen durch Bierbrauer oder Weinhändler darf es nicht mehr geben. Im Fernsehen und im Kino müssen alle Szenen, in denen Alkohol getrunken wird, überblendet werden. Efes Pilsen, der größte Bierbrauer der Türkei reagierte darauf in allen Samstagzeitungen mit einer großen Kampagne: die Seite drei der größten Zeitung »Hürriyet« ziert eine Bierflasche ohne Etikett oder einen anderen Hinweis auf den Inhalt der Flasche. Darunter steht: »Seit 44 Jahren wissen unsere Kunden, was sie an uns haben«. Auch ohne Etikett.

Für den größten Aufschrei sorgte jedoch der dritte Teil des Gesetzes. Zukünftig soll der Ausschank von Alkohol im Umkreis von Moscheen oder Bildungseinrichtungen verboten werden. Wer die Moscheendichte in Istanbul und anderen Städten der Türkei kennt, weiß, dass damit der Genuss von Bier, Wein und Raki in den urbanen Zentren der Städte praktisch unmöglich wird. Der geballte Aufschrei der Gastronomie-, Unterhaltungs- und Tourismusbranche hat immerhin dazu geführt, dass die bestehenden Kneipen und Restaurants von dieser Regelung ausgenommen wurden. Neue Lizenzen für den Alkoholausschank wird es jedoch nicht mehr geben.

Demonstrativ trafen sich schon am Freitagabend etliche Menschen zum Biertrinken in Parks und anderen öffentlichen Plätzen. »Die wollen unseren Lebensstil ausrotten«, ist Deniz überzeugt. »Die reden von Jugendschutz, aber das ist nichts anderes als der Versuch, die Gesellschaft von oben umzukrempeln«. Geschichten aus der Zeit der Osmanen machen die Runde, als einige Sultane schon einmal eine Alkoholprohibition durchzusetzen versucht haben. »Damals«, erzählt Mehmet, »gab es so genannte mobile Kneipen. Alkohol wurde illegal an allen Ecken und Enden der Stadt verkauft«. Mit anderen Worten: »Sie, die AKP wird es nicht schaffen, Istanbul in Riad zu verwandeln«.

Der Schock ist dennoch groß. Die säkularen Türken sehen allmählich ihre schlimmsten Ängste über ein religiöses Regime eintreffen und die aufstrebende Tourismusindustrie befürchtet, den religiösen Zwangsvorstellungen der AKP zum Opfer zu fallen. »Wir erwarten für dieses Jahr 13 Millionen Touristen in Istanbul«, sagt der Verbandsvorsitzende der Reiseversicherer, Basaran Ulusoy. »Wenn die ihre Vorstellungen durchsetzen, ist es mit der bunten Weltstadt Istanbul vorbei.«

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