Applaus als Medizin

Das Münchner »Hartz-IV-Orchester« vereint Hobby- und Profikünstler

  • Lesedauer: 3 Min.

München (epd/nd). Manfred Josef Hampel weiß, wie brutal das Scheitern im Job sein kann. Als die Firma des Innenarchitekten 2001 Insolvenz anmelden musste, ließen sich Geschäftspartner am Telefon verleugnen, die ihn noch einen Tag zuvor hofiert hatten. »Das lag mir ziemlich im Magen«, sagt der 57-Jährige heute. Doch die berufliche Krise hatte auch etwas Gutes: Der Hobby-Musiker erfüllte sich einen langgehegten Wunsch und gründete ein Orchester.

Hampel hat längst wieder beruflichen Erfolg, doch seine Erinnerungen an den Absturz sitzen tief. Im Krisenjahr 2008 rief er ein außergewöhnliches Sozialprojekt ins Leben. In München gründete er das »Hartz-IV-Orchester«. Dabei konnte der Trompeter und Keyboarder seine Liebe zur Musik mit gesellschaftlichem Engagement verbinden. »Gerade für Musiker ist das Gefühl besonders schlimm, nicht mehr gebraucht zu werden. Da steht dann schnell das Selbstbewusstsein auf der Kippe.«

Zu den derzeit rund 130 Orchestermitgliedern zählt der Franzose Étienne Gillig (59). Er schwärmt vom »Zusammensein mit Gleichgesinnten, mit Leuten, die dieselben Probleme haben wie ich. Dadurch habe ich immer unheimlich Energie gewonnen.« Das Orchester besteht etwa zur Hälfte aus Hartz-IV-Empfängern wie Gillig. Manche Akteure sind arbeitslos, manche sogenannte Aufstocker.

»Dadurch, dass wir große Auftritte organisieren, erzeugen wir Applaus und damit die beste Medizin für Leute, die kein Selbstbewusstsein mehr haben«, sagt Hampel, der sich auf der Bühne nur Manfredo nennt, und noch immer der Hauptsponsor der Initiative ist.

Gillig hat am Straßburger Konservatorium Violincello studiert, war in München bei der Bayerischen Staatsoper, beim Staatsschauspiel und den Münchner Kammerspielen tätig. Der Synchronsprecher und Dolmetscher moderiert ein TV-Magazin des Bundespresseamtes und produziert Theaterstücke. Sein Kabarettprogramm »Die Französischstunde« ist meist ausverkauft. »Aber es schwankt eben sehr mit den Aufträgen«, sagt Gillig: »Oft kommt das Geld irgendwann, nur eben nicht zum richtigen Zeitpunkt.« Wie ihm geht es vielen Künstlern: Er hatte und hat Engagements, aber kann von ihnen oft nicht leben. »Hartz IV ist für mich eine finanzielle, vor allem aber seelische Unterstützung«, sagt Gillig. Und das »Hartz-IV-Orchester«, in dem er Cello spielt und Theaterstücke produziert, habe ihm gerade in schlechten Zeiten weitergeholfen.

Das Orchester ist längst zu einer Klammer für unterschiedliche Projekte geworden. Zum Angebot der Truppe gehören inzwischen auch Tanz, Schauspiel, Clownerie oder Catering. Auftritte finden auf Stadtteilfesten, Hochzeiten und Messen statt, ebenso wie bei Examensfeiern oder offiziellen Anlässen der Stadt München. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. »Unsere Arbeit ist optimal gelaufen, wenn die Mitglieder irgendwann wieder weg sind«, sagt Hampel.

Der Orchestergründer hat jetzt immer zwei Visitenkarten dabei. Auf den neueren steht dezent »H4O Künstlerwerbegemeinschaft - Musik und Show für jeden Anlass«. Damit, erzählt Hampel, laufe das Marketing besser.

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