Chile und die doppelte Solidarität

Erinnerungen an das Jahr 1973: Europa hätte mehr tun müssen

  • Lina zu Kamphengst
  • Lesedauer: 3 Min.
Nach dem Militärputsch gegen die gewählte Regierung Chiles im Jahr 1973 gab es in beiden deutschen Staaten Beweise von Solidarität. Sie sind der Erinnerung wert.

Die Seidels besuchen Chile häufig. Sie verknüpfen mit diesen Besuchen Erinnerungen, die bis in das Jahr 1973 zurückreichen. Genauer gesagt: an die Zeit nach dem 11. September 1973. Die Berlinerin Ines Seidel hat vor 40 Jahren mit der Tochter Arnoldo Camú Velosos, eines ermordeten Rechtsberaters des Präsidenten Salvador Allende, Freundschaft geschlossen. Das chilenische Mädchen war mit der Familie über Mexiko und Schweden in die DDR geflüchtet. Ines Seidel und die junge Chilenin lernten sich beim gemeinsamen Schulunterricht kennen.

Rainer Seidel war schon mit 17 Sozialdemokrat und lebte im Südhessischen gelegenen Offenbach. Der SPD-Landesbezirk Hessen-Süd war damals nach Seidels Worten sehr links ausgerichtet. Der Bundestagsabgeordnete Manfred Coppik, dessen Wahlbezirk dies war, setzte sich sofort nach dem Militärputsch für Solidarität mit Chile ein.

Solches Herkommen in Ost und West ist gemeinsames Band der Seidels. Ines’ Freundschaft zur Tochter Arnoldo Camú Velosos ist eine Familienfreundschaft geworden. Die beiden Seidels interessieren sich daher auch dafür, wie sich Chile jetzt entwickelt. In Deutschland besuchen sie Veranstaltungen zum Thema Chile. So auch jene, die die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) jüngst organisiert hat. Sie wollten hören, was die Vizepräsidentin der Sozialistischen Partei Chiles und Tochter Salvador Allendes - nicht zu verwechseln mit dessen Nichte, der bekannten Buchautorin gleichen Namens - zu berichten hat. Die Seidels wissen darum, wie die Demokratie zaghaft wieder eingezogen ist in Chile und darum, dass die Wirtschaftskraft des Landes sich enorm entwickelt. Aber sie wissen auch, dass sich die Einkommensschere gewaltig spreizt in Chile. »Politisch bewegt sich da nichts mehr«, meint Rainer Seidel.

Ingrid Matthäus-Meier, die Vorsitzende des Kuratoriums der Friedrich-Ebert-Stiftung, empfindet auch heute noch Empörung über das, was die USA in Chile betrieben, und findet es richtig, dass der spätere Kanzler Helmut Schmidt zu seinem SPD-Ministerkollegen Matthöfer stand, der die Putschisten als Mörderbande bezeichnete. Chile sei insbesondere für die jüngere Generation eine große Hoffnung gewesen. In der Außerparlamentarischen Opposition, kurz APO, hätten sich Studierende mit der Situation in der Dritten Welt und speziell in Lateinamerika befasst. Sie wären die erste Generation gewesen, der bewusst gewesen sei, dass man im reichen Norden auf Kosten des armen Südens privilegiert sei. 1971 hatte Allende die von einer »übermäßigen Rentabilität« gekennzeichnete Kupferindustrie ohne Entschädigung verstaatlicht. Dies sei »ein Delikt gewesen, was man ihm vorgeworfen hätte«. Der sozialistische Weg Chiles, die Idee des demokratischen Sozialismus, hätte nicht ins Bild der USA gepasst, so Isabel Allende. Sie betonte, Allende wäre schließlich nicht wie Castro auf bewaffnetem Wege an die Macht gekommen. »Wenn die USA nicht eingegriffen hätten, vielleicht wäre der Weg erfolgreich gewesen«, gab sie zu bedenken und führte den Gedanken weiter, vor dem Staatsstreich wäre mehr Solidarität vonnöten gewesen. Europa hätte mehr tun können in der damals bipolaren Welt. Kredite ausreichen zum Beispiel …

Seitens der Bundesregierung und der Landesregierungen gab es nach dem Putsch keinen so eindeutigen Kurs, wie seitens der Jusos, der Linken allgemein und auch etlicher Liberaler und Christen verlangt. Exilanten wurden ob eventuellem Linksextremismus noch auf chilenischem Boden Befragungen unterzogen, die zusätzliche Ängste ausgelöst haben. Zwei Wochen dauerte es überhaupt, bis die Bundesregierung offiziell Flüchtlinge (3000 insgesamt) aufnahm. In der DDR wurden sofort 6000 Flüchtlinge aufgenommen. Isabel Allende dankte Deutschland für die 1973 und in den Jahren danach geleistete Solidarität. Ines Seidel meldete sich an dieser Stelle zu Wort und verwies auf die damalige Zweistaatlichkeit des heute geeinten Deutschland. Ihr wurde recht gegeben und in doppelten Dank eingebunden.

Mit dem verstorbenen Vater hadert Ines Seidels Freundin heute noch, weil er, der stellvertretende Leiter der los elenos chilenos, des bewaffneten Arms der Unidad Popular, statt zu flüchten im Lande verblieb und so im Alter von 36 Jahren am 24.9.1973 verstarb. Der Vater fehlt ihr. Die Freundin rührt nicht an den Schmerz.

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