nd-aktuell.de / 10.06.2013 / Politik / Seite 7

Erdogan sieht überall »Vandalen«

Ratlosigkeit der Regierung nach einem weiteren Protestwochenende in der Türkei

Jürgen Gottschlich, Istanbul
Der türkische Regierungschef Erdogan lehnt vorgezogene Wahlen ab. Stattdessen beschimpft er die Protestierenden erneut als Vandalen. Diese fordern zu Tausenden auf dem Taksim-Platz seinen Rücktritt. Auch die Polizei will nicht mehr - und berichtet von Selbstmorden in ihren Reihen.

Die Istanbuler haben genug. Am Sonntagnachmittag hallte der Taksim-Platz im Zentrum der Stadt erneut von den Rücktrittsrufen Tausender Demonstranten an die Adresse von Ministerpräsident Erdogan zurück. Wie viele dem Aufruf der »Taksim-Plattform«, die die Besetzung des Gezi-Parks ursprünglich organisiert hatte, gefolgt waren, ist schwer zu sagen. »Man hat das Gefühl, hier sind eine Million Leute«, meint eine Teilnehmerin, »aber niemand hat wirklich einen Überblick.«

Trotz der drangvollen Enge auf dem Platz ist die Stimmung ausgezeichnet. Immer wenn die U-Bahn eine neue Ladung Protestler an die Oberfläche entlässt, werden sie von den Umstehenden mit großem Beifall begrüßt. Von einer improvisierten Bühne aus ruft eine der Gezi-Park-Besetzerinnen in die Menge: »Ich habe seit Tagen nicht mehr geschlafen, ich nehme Schmerzmittel und kann mich kaum noch auf den Beinen halten, aber ich werde auf keinen Fall den Gezi-Park räumen.«

Andere sandten Grüße an die Demonstranten in weiteren Städten der Türkei; in Adana am Mittelmeer hatte die Polizei in der Nacht zuvor erneut Protestierende mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen. Am Taksim-Platz war dagegen weit und breit keine Polizei zu sehen, lediglich ein Polizeihubschrauber umkreiste den Platz und die nähere Umgebung.

Schon am Sonnabendnachmittag war es zu einer bis dahin in Istanbul noch nie da gewesenen Solidaritätsaktion für die Besetzer des Gezi-Parks gekommen. Die Fan-Klubs der drei großen Fußballvereine der Stadt - Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas - hatten zu einer gemeinsamen Aktion zur Unterstützung der Aktivisten aufgerufen. Einträchtig wie nie marschierten die normalerweise verfeindeten Fans zu Tausenden zum Taksim-Platz.

Unterdessen tourt Ministerpräsident Tayyip Erdogan durch die Türkei, um seine Unterstützer zu mobilisieren. Zuerst in Adana, dann in Mersin und zum Abschluss des Tages in Ankara sprach er auf großen Kundgebungen zu Anhängern seiner Regierungspartei AKP. Doch viel mehr als Ratlosigkeit hatte er nicht zu bieten. Erneut fiel ihm nichts anderes ein, als die Protestierenden als »Vandalen« zu beschimpfen, die keine Ahnung von der Freiheit hätten, die sie fordern würden.

Seit Erdogans Rückkehr von einer viertägigen Nordafrikareise am Freitagabend wartet die Nation darauf, welchen Weg die Regierung nun einschlagen werde. Am Sonnabend und Sonntag tagte dann ein erweiterter Parteivorstand der AKP. Während der Abwesenheit von Erdogan hatten sich Staatspräsident Abdullah Gül und Erdogan-Stellvertreter Bülent Arinc wegen der Polizeiübergriffe entschuldigt und einen Dialog angeboten.

Davon will Erdogan aber nichts wissen. Im Parteivorstand kursierte stattdessen der Vorschlag, Parlamentswahlen von 2015 auf das Frühjahr 2014 vorzuziehen, um den »Vandalen« eine Antwort an der Urne zu geben. Im März kommenden Jahres finden landesweite Kommunalwahlen statt und einige führende AKP-Funktionäre hatten vorgeschlagen, die Parlamentswahlen mit den Kommunalwahlen zusammenzulegen. Doch Erdogan entschied sich dagegen; offenbar ist er sich nicht sicher, ob er in naher Zukunft wieder ein so gutes Wahlergebnis erreichen könnte wie 2011, als er nahezu 50 Prozent der Stimmen gewann.

Wenn er aber den Dialog mit den Protestierenden oder Neuwahlen ausschließt, bleibt letztlich nur Gewalt. Doch die Polizei will nicht mehr. Ihre Gewerkschaft hat gestern bekannt gegeben, nach teilweise 120 Stunden Dauereinsatz seien die Männer am Ende; es habe bereits sechs Selbstmorde von Polizisten gegeben. Für das kommende Wochenende hat die AKP nun ihre Anhänger zu Großdemonstrationen in Istanbul und Ankara aufgerufen.