Der »Gehörnte« als Bremser in Lettland

Warum sich die Naturalisierung von »Nichtbürgern« verlangsamt

  • Toms Ancitis, Riga
  • Lesedauer: 5 Min.
Etwa 16 Prozent der Bevölkerung Lettlands sind als »Nichtbürger« wichtiger Bürgerrechte beraubt. Wie Innenminister Rihards Koslovskis kürzlich gestand, ist deren Integration nach mehr als 20 Jahren Unabhängigkeit gescheitert. Koslovskis warnte vor zunehmenden Spannungen.

Es ist 10 Uhr vormittags, als Kristine den Prüfungsraum des lettischen Amtes für Staatsangehörigkeit und Migration verlässt. »Ich hab's geschafft«, verrät die junge Frau fröhlich ihrer Freundin vor der Tür. Kristine hat das Examen in lettischer Geschichte bestanden. Drei Monate später kann sie ihren violetten »Nichtbürger«-Pass gegen den blauen Pass der Staatsbürger Lettlands eintauschen.

Gleiches tun jedes Jahr ein paar Tausend »Nichtbürger«: Sie unterziehen sich zur Anerkennung als lettische Staatsbürger mit allen Rechten einem »Naturalisierungsprozess«. Dass es ihn gibt, ist Hauptargument nationalistischer Politiker in Lettland, Kritik an der Ungerechtigkeit des »Nichtbürger«-status zurückzuweisen.

Die Geschichtsprüfung sei nicht schwer gewesen, sagt Kristine: »Man muss nur die richtigen Antworten lernen.« Zwar hätte sie ein paar Fragen gerne anders beantwortet als gefordert. Beispielsweise: »Was geschah in Lettland am 17. Juni 1940?« Die »richtige« Antwort lautet: »Die sowjetische Besetzung begann.« Kristine hat ihr eigenes Geschichtsverständnis zurückgedrängt, wichtiger war es für sie, den Test zu bestehen: »Ich will demnächst nach Großbritannien umziehen und mir dort eine Stelle suchen. Als lettische Bürgerin kann ich das problemlos.«

Seit 1995, als das Naturalisierungsrecht gewährt wurde, ist die Zahl der Nichtbürger in Lettland von mehr als 700 000 auf weniger als 300 000 gesunken. Allerdings haben nur rund 140 000 die Staatsbürgerschaft durch Naturalisierung erworben. Die anderen haben sich für die russische Staatsbürgerschaft entschieden, das Land verlassen, wurden als Absolventen lettischer Schulen automatisch eingebürgert oder sind verstorben.

Das Tempo der Naturalisierung hatte sich zuletzt deutlich verlangsamt. »Das Interesse wächst immer dann, wenn durch die Staatsbürgerschaft irgendwelche neuen Leistungen verfügbar werden«, weiß der Leiter der Naturalisierungsbehörde Igors Gorbunovs. 2005, nach Lettlands EU-Beitritt, wuchs die Zahl der Bewerber rasch. Damals ließen sich jährlich etwa 20 000 »Nichtbürger« einbürgern. Als Russland den in Lettland und Estland ansässigen »Nichtbürgern« visafreie Einreise ermöglichte, sank die Zahl wieder.

Typische naturalisierungswillige »Nichtbürger« wie Kristine sind jünger als 30 Jahre und verfügen über gute lettische Sprachkenntnisse. »Am wenigsten interessiert ist ausgerechnet die größte Gruppe der Nichtbürger, die der Über-50-Jährigen«, berichtet Gorbunovs. Sie haben häufig schlechte oder gar keine Lettischkenntnisse. Nach einer Umfrage des Amtes für Staatsangehörigkeit und Migration wollen viele abwarten, bis sie 65 Jahre alt sind, denn für diese Altersgruppe ist das Sprachexamen erleichtert.

Aber ein Viertel der »Nichtbürger« wollen sich nicht naturalisieren lassen, weil sie es entwürdigend finden, im Land ihrer Geburt einen Test bestehen zu müssen, um ihre Zugehörigkeit zu beweisen. »Sie sind der Meinung, die Bürgerschaft sollte ihnen automatisch erteilt werden«, sagt Gorbunovs. Und je aktiver die Bewegung der »Nichtbürger« in Lettland wird, desto mehr Leute hoffen, dass irgendwann die automatische Einbürgerung kommt.

Schon im vergangenen Jahr, als ein Referendum über Russisch als zweite Amtssprache stattfand, sank die Zahl der Naturalisierungswilligen. Und auch in diesem Jahr wird das Tempo wahrscheinlich sinken. Die Bewegung »Für gleiche Rechte« hatte Ende vergangenen Jahres 12 000 Unterschriften für die automatische Einbürgerung gesammelt. Das reichte, um die nächste Hürde in Angriff zu nehmen: eine offizielle, staatlich gebilligte Unterschriftensammlung zur Unterstützung eines Referendums. Doch eine solche Volksabstimmung wurde von der Zentralen Wahlkommission aus formalen Gründen abgelehnt.

Die Aktivisten geben allerdings nicht auf. Der erste Kongress der »Nichtbürger« der Republik wird vorbereitet, auch »alternative Wahlen der ›Nichtbürger‹« sollen organisiert werden, um ein »Alternativparlament« zu wählen. Vladimirs Lindermans, der bereits Initiator des Referendums über die Zweisprachigkeit war, leitet die Bewegung. Der kleine Mann mit grauem Haar und dunklem Bart spricht gutes Lettisch, ruhig und freundlich. Schwer zu glauben, dass er sich selbst als »Nationalbolschewik« und »Anarchist« bezeichnet und dass er die Elite des Landes in Aufregung versetzt.

»Ich habe den Ruf eines gehörnten Teufels, der das lettische Volk und seine Sprache zerreißen will«, sagt Lindermans lächelnd. Auf dem Weg zu einem Café in der Rigaer Altstadt hat ihn fast jeder Passant neugierig beäugt. »Ja, die Leute erkennen mich«, bestätigt er. Sein Ruf entspreche aber nicht der Realität. »Den haben mir rechtsradikale Politiker angehängt. Wir kämpfen einfach für Gerechtigkeit. Solange die nicht erreicht ist, bleibt die Bevölkerung Lettlands gespalten.«

Vor einem Jahr gründete Lindermans seine Partei »Für die Muttersprache«. Die trat bei den Rigaer Kommunalwahlen am 1. Juni an - ohne nennenswerten Erfolg, aber auch ohne Lindermans selbst. Denn er als »Nichtbürger« darf weder wählen noch gewählt werden. »Ist das nicht absurd?« Er wurde in Riga geboren, seine Eltern waren kurz nach Kriegsende aus der Ukraine nach Lettland übergesiedelt. Die lettische Staatsbürgerschaft wurde Anfang der 90er aber nur Bürgern der Republik Lettland nach dem Stand vom Juni 1940 und deren Nachkommen zuerkannt.

»Nichtbürger«, die sich naturalisieren lassen, »nutzen einfach ihre Rechte«, sagt Lindermans und wirft ihnen das nicht vor. Sie hätten einfach keine andere Wahl. Aber für das Land sei das schädlich, glaubt er. Weil viele seiner Meinung nach »mit Hass« statt mit Liebe und Patriotismus Staatsbürger werden. »Deshalb wäre die Nullvariante (die automatische Erteilung der Staatsbürgerschaft) natürlich die beste Option.« Mittlerweile sei das aber unrealistisch, denn die Regierenden lehnen diese Lösung kategorisch ab. Auch die Mehrheit der Letten ist laut Umfragen der Meinung, dass sie nicht akzeptabel wäre. »Deswegen sind wir bereit, einen Kompromiss einzugehen: Den ›Nichtbürgern‹ müsste wie in Estland zumindest das Wahlrecht auf kommunaler Ebene zugestanden werden.« Die von Igors Gorbunovs geleitete Naturalisierungsbehörde wird wegen Lindermans' Aktivitäten immer weniger Arbeit haben.

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