Läuft und läuft und läuft

Depeche Mode zeigten im Berliner Olympiastadion, wie man die Volksmassen bewegt

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.

Ihren 14-Jährigen haben Stefanie und Andreas heute zu Oma nach Lichtenrade gegeben, damit er nicht wieder die ganze Nacht wach bleibt und am Computer spielt, so wie letztes Mal, als man frühmorgens vom Betriebsausflug nach Hause kam.

Sie ist Bürokauffrau und ihr Ehemann Maschinenbautechniker. Sie hat sich heute morgen die Haare gefärbt und sogar zur Feier des Tages ihre alte, enge schwarze Latexhose aus der unteren Schrankschublade geholt. Und er hat sich seine Ohrringe reingesteckt. Denn heute ist ein besonderer Abend.

Heißa, heut’ ist Depeche-Mode-Abend! Deshalb ziehen Zehntausende Mittvierziger gen Olympiastadion, die Frauen mit einem Piccolofläschchen, die Männer mit Bierflasche in der Hand und leichtem Bauchansatz. Sie kommen zusammen, um für einen Abend wieder 18 zu sein. »Weißt du noch, Schatz, wie wir damals geknutscht haben?« Wir alle wissen es. Es war Samstagnacht, und der Abend in der Disco neigte sich seinem unwiderruflichen Ende zu.

Depeche Mode ist eine aus England stammende, seit über 30 Jahren erfolgreicher werdende, wie geschmiert funktionierende Drei-Mann-Unterhaltungsindustrie, die bis heute mehr als hundert Millionen Platten verkauft hat: ein exaltierter, narzisstischer Sänger, ein verträumter Berufsjugendlicher mit Hundeblick an der Gitarre, und ein schweigsamer, pausbäckiger Rothaariger, der unbeweglich hinter einem Synthesizer steht. Dave Gahan, Martin Gore und Andrew Fletcher. Die Drei verbindet etwas, was nicht viele ihr eigen nennen können: eine 35-jährige Männerfreundschaft mit Höhen und Tiefen. Zickenkrieg, Drogensucht, kreative Krise, alles inklusive, alles schon durch und überstanden.

Sie spielen handwerklich perfekt verarbeiteten, krisensicheren Qualitätspop. Auch visuell wird am vergangenen Sonntagabend Entsprechendes geboten: Auf den Videoleinwänden neben der Bühne werden Feuerwerksanimationen und allerlei anderer Zinnober und Rambazamba gezeigt.

Die Jungs verstehen zweifelsohne etwas von Marketing: Es ist ihnen gelungen, die heute 30-Jährigen davon zu überzeugen, dass das Kürzel DM für Depeche Mode steht und nicht für D-Mark, was ihnen erst mal einer nachmachen soll. Die Songs von Depeche Mode sind das musikalische Äquivalent zu Popcorn oder Coca Cola: Sie befriedigen ein diffuses Bedürfnis, das einen zuweilen überkommt, lösen aber auch keine mittelschwere Ekstase aus. Und man weiß genau, was man für sein Geld bekommt. Moderne, aparte Tanz- und Mitschunkelschlager, die stets zuverlässig an ihren ersten Takten als genuine DM-Erzeugnisse wiedererkennbar sind. Die größten Hits der 80er, 90er und Postmillenniumsjahre.

Depeche Mode hat für das versammelte im Regen stehende Mehrgenerationenpublikum ein Potpourri aus 30 Jahren Steckdosenmusik zusammengestellt, und man kann sich gewiss sein, dass für jeden irgendein Gassenhauer dabei ist: die kunsthandwerklich sauber gedrechselte Edelschnulze, die elektronisch hochgepimpte Rhythm’n’Blues-Nummer, der kommerzradiokompatible Technostampfer und die herzergreifende Mitgrölhymne. Ganz erstaunlich, dass nicht auch noch »Smoke on the Water« von Deep Purple, »We will rock you« von Queen oder »Das Model« von Kraftwerk erklingt. All das könnte ohne weiteres an diesem Abend auch gespielt werden. Es würde keinen Unterschied machen.

Das Publikum wäre bei all seinem Armehochrecken und Mitgrölen nicht weiter verstört, denn es geht natürlich nicht nur um Musik. Es geht um Gemeinschaft, ums Mitmachen im Stadionrockzirkus. Ums Feuerzeugeschwenken und Nostalgischfühlen - darum, für einen Abend Angehöriger einer riesenhaften rhythmisch in die Hände klatschenden und simultan die Fäuste reckenden religiösen Gemeinde zu sein.

Dave Gahan, die virile, geölte und überaus sportlich wirkende Rampensau des Trios, der Hohepriester des Abends, der in seiner überspannten Kasperhaftigkeit ganz offensichtlich seinem mutmaßlichen Vorbild Mick Jagger Jahr für Jahr ähnlicher wird, tut also das, was er immer tut und ausnehmend gut kann: Er tanzt, wackelt exzessiv mit dem Hintern, dreht sich im Kreis, macht Faxen, breitet theatralisch die Arme aus, geht in die Knie, windet sich schlangenhaft, hebt mit beiden Armen den Mikrofonständer über sich, macht überkandidelte Jesusgesten, greift sich hie und da in den eigenen Schritt und rennt gelegentlich über den Laufsteg, mit dem man die Bühne ins Publikum verlängert hat. All das macht er sehr gut, und das Beste daran ist: Er singt auch noch dabei. »I’m your Personal Jesus« - Bumm, Bumm, Bumm - »Reach out and touch me!« Genauso wie sein Kompagnon Martin Gore trägt er bei all dem traditionell ein neckisches ärmelloses, schwarzes Lederwestchen, das seinen durchtrainierten Oberkörper, den er bereitwillig zur Schau stellt, hervorragend zur Geltung bringt.

Kurz: Man kennt all das schon zur Genüge. Aber es ist gut, weil es funktioniert. Etwa so wie Bier immer funktioniert, wenn man durstig ist. Nach wie vor gilt der Leitsatz: Repariere nichts, was nicht kaputt ist.

In der legendären, im Jahr 1983 eingestellten Popmusikzeitschrift »Sounds« gab es vor ziemlich genau 31 Jahren einmal einen Text, in dem der Autor Überlegungen anstellte über die mutmaßliche Haltbarkeit des seinerzeit in England frisch aufgekommenen sogenannten Synthie-Pop, eines ganz neuen Genres: ein bonbonbunter Kinderzimmer-Pop, in Hobbykellern fabriziert von hedonistischen Jugendlichen, bei dem alle Töne aus neumodischen Maschinen kamen, die man vorher programmierte.

Auf einem großen Foto waren vier mit Karottenhosen und gebügelten Oberhemden bekleidete, androgyn ausschauende Spätpubertierende zu sehen, die Kunststudentenfrisuren trugen und ein wenig selbstverliebt in die Kamera blickten. Unter dem Foto war die Zeile zu lesen: »Depeche Mode: Absolut here today, aber vielleicht schon gone morgen Mittag«. Was wohl so viel bedeuten sollte wie: Von dieser Band spricht vermutlich bald keiner mehr. - Was hat man sich damals getäuscht.

Auf ihrem 30-jährigen Weg vom unbeschwerten Prä-Technopop für die Generation Golf zum gefälligen, stadionkompatiblen Volksfestrock für die ganze Familie ist es Depeche Mode auf erstaunliche Weise gelungen, zur Marke zu werden. Music for the masses. Wie hat es ein vor 160 Jahren gegründeter und bis heute ökonomisch überaus erfolgreicher Textilienhandelskonzern einmal formuliert? »Quality never goes out of style.« Oder wie der VW Käfer in den 60er Jahren. Läuft und läuft und läuft.

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