Der Premier und die Topfschläger

Groteske Regierungsauftritte - hat Erdogan den Kontakt zur Wirklichkeit verloren?

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.
Erst das Dialogangebot der türkischen Regierung, dann Knüppelgarden. Ist das ein Ausdruck perfider Strategie der türkischen Regierung oder zunehmender Kopflosigkeit?

Noch am Montag setzte die Regierung auf Entspannung, so schien es zumindest. Da kündigte Bülent Arinc, Stellvertreter von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, ein Gespräch des Premiers mit Vertretern der Protestbewegung an. Am nächsten Morgen begann die Polizei die Räumung des Taksim-Platzes in Istanbul. Fast gleichzeitig hielt Erdogan eine im Fernsehen übertragene Rede, in der er zwischen wahren Umweltschützern und denen unterschied, die mit ihrem Protest ganz anderes wollen. Diese bestünden aus ganz kleinen Gruppen, die sich als Umweltschützer tarnten, aber gleichzeitig »Lärmbelästigung« verursachten. Und Lärmbelästigung sei doch schließlich auch ein Umweltproblem. Offenbar spielte Erdogan auf das Schlagen von Töpfen, Pfannen und Löffeln an, das jeden Abend um 21 Uhr in Istanbuler Stadtvierteln aus Protest gegen seine Regierung ertönt.

Indessen begründete der Gouverneur von Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu das Einschreiten der Polizei am Taksim damit, dass das Andenken an den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk gewahrt werden müsse. Am Taksim-Platz befindet sich ein Atatürk-Kulturzentrum, und auf dem Platz steht ein Denkmal des Gründers der modernen Türkei. Für die Leute auf dem Platz ist die Aussage des Gouverneurs eine ziemliche Frechheit - ist es doch gerade die Regierung, die bestrebt ist, das Erbe Atatürks zu verdrängen.

Geldstrafe für Halk TV: Türkische Behörde maßregelt Medien

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wollte am Mittwoch Künstler und Vertreter der Protestbewegung zu einem Gespräch treffen, wie die Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Bis zum frühen Abend war es dazu noch nicht gekommen.

Die türkische Rundfunkbehörde RTÜK ging derweil gegen Sender vor, die kritisch über den Polizeieinsatz gegen Demonstranten berichtet hatten. Der Sender Halk TV, der durchgehend über die Demonstrationen berichtet, sei wie drei weitere Stationen zu einer Geldstrafe verurteilt worden, berichteten türkische Medien am Mittwoch. Die Rundfunkbehörde wirft den TV-Stationen vor, mit ihren Programmen »die physische, geistige und moralische Entwicklung junger Menschen zu gefährden«.

International wachsen Besorgnis und Kritik wegen des Vorgehens der türkischen Polizei. Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Seibert »konstruktive Gespräche durch Besonnenheit aller Seiten«. Außenminister Guido Westerwelle erklärte in Berlin, »die türkische Regierung sendet mit ihrer bisherigen Reaktion auf die Proteste das falsche Signal, ins eigene Land und auch nach Europa.«

Der Angriff der Polizei auf Tausende Demonstranten sei Erdogans bisher schlimmste Attacke auf Demokratie und Menschenrechte seit Beginn der Proteste, erklärte Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion der LINKEN im Bundestag und stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief alle Beteiligten zu Ruhe und friedlichem Dialog auf. »Proteste sollten friedlich sein, und das Recht auf Versammlung und freie Meinungsäußerung sollte respektiert werden, denn das sind fundamentale Prinzipien eines demokratischen Staates«, sagte sein Sprecher in New York. (dpa/nd)

 

Gouverneur Mutlu hat es ohnehin rasch geschafft, seinen Ruf zu ruinieren. Den Besetzern des Gezi-Parkes am Taksim hatte er getwittert, dass er gerne mit ihnen zusammen morgens die Stimmen der Vögel hören würde… Der selbe Herr mit dem graumelierten Haar und gepflegtem Schnurrbart ließ nun den Taksim-Platz gewaltsam räumen.

Doch der Tag sah noch mehr grotesk-komische Auftritte. Da verwarnte Ali Babacan, der mit seinen 46 Jahren schon zweimal Wirtschafts- und einmal Außenminister der Türkei war und derzeit zu den Stellvertretern Erdogans gehört, allen Ernstes im Parlament die Banken wegen der Demonstrationen in der Türkei. Ob er es auch selbst glaubt, dass die Leute auf der Straße von der Finanzbranche dirigiert werden, um Spekulationsgewinne abzuschöpfen, wie sein Chef Erdogan behauptet hat?

Natürlich präsentieren Politiker gerne alle möglichen Sündenböcke. Doch bei Erdogan scheinen schier unmögliche Theorien über die Ursachen des Aufruhrs mehr zu sein als bloße Zweckbehauptungen. Anscheinend hat Erdogan den Kontakt zur Wirklichkeit einfach verloren.

Anders ist die Entschlossenheit, mit der er seinen politischen Zug an die Wand fährt, kaum noch zu verstehen. Nicht einmal auf sein Bauprojekt am Taksim-Platz, für dessen Gestaltung er eigentlich gar nicht zuständig ist, hat Erdogan bisher aufgegeben. Dabei ist er ein Politiker mit langer Erfahrung in schwierigen Situationen.

Die seiner Partei handzahm gemachten Medien folgen ihm und mögen damit den Realitätsverlust des Premiers mitverursacht haben. Indessen laufen die Kunden den traditionellen Medien mehr und mehr davon. Das Internet wird immer wichtiger, manch bisher kleinere Publikation kann ihre Auflagen enorm steigern.

So schaffte die kleine linke Zeitung Birgün in einer Woche einen Auflagensprung von 49 Prozent. Ähnliches gilt für Fernseh- und Radiosender. Es gibt sogar einen neuen Fernsehsender im Internet: CapulTV. Das Wort capul bedeutet »Raub« und bezieht sich auf capulcu »Räuber« oder auch »Marodeur«, Erdogans Lieblingswort für die Demonstranten.

Doch mitunter wissen die Leute auch einfach so, was los ist. Die U-Bahnstrecke zum Taksim ist zwar immer wieder gesperrt, doch wenn ein Zug durchkommt, klatschen die Wartenden. Der Applaus gilt denen, die zur Demo kommen. Diese klatschen dann den Wartenden, denn diese kommen von der Demo. Und jeden Abend um 21 Uhr dröhnt das Viertel vom Lärm aneinander geschlagener Töpfe, Pfannen und Löffel - eine halbe Stunde lang. Ob diese Leute alle von ihrer Bank einen Scheck bekommen haben, damit sie das machen?

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