Sturm überm Gezi-Park

»Diese Eskalation war geplant«

  • Fabian Köhler, Istanbul
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein zerstörtes Camp und verstörte Demonstranten - das ist die Bilanz des mitternächtlichen Polizeieinsatzes im Istanbuler Gezi-Park.

Nach fast 24 Stunden Straßenschlacht ist im Istanbuler Gezi-Park wieder Ruhe eingekehrt. Einige Demonstranten reisen erschöpft ab. Andere bauen ihr zerstörtes Lagen wieder auf - und die Barrikaden gegen den nächsten Polizeiangriff gleich mit.

Es ist ein trauriger Mittwochmorgen im Park. Als Meral im Regen vor ihrem Zelt beim Frühstück sitzt, blickt sie zum ersten Mal seit zwei Wochen auf freie Plätze in der Anlage. »Ein Sturm ist über uns hereingebrochen«, sagte sie und meint nicht das Unwetter, welches am Morgen den letzten Rest Tränengas aus der Luft wusch.

Vom Dienstag auf Mittwoch erlebte Istanbul eine der gewaltsamsten Nächte seit Beginn der Proteste vor zwei Wochen. Bis in die Morgenstunden lieferten sich Tausende Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei. Das »Ende der Toleranz«, von dem der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan zuvor gesprochen hatte, war faktisch der Aufruf zu massiver Gewalt.

»So etwas habe ich noch nie erlebt«, sagt Hassan mit roten Augen. Neben der verwüsteten Baustelle westlich des Parks wurde die Einkaufsstraße Istiklal zum Zen᠆trum des Protests. Fußallfans wie der 24-jährige Besiktas-Anhänger gelten als eine Art Elitetruppe des Protests. Blumenkübel, Abwasserrohre von einer Baustelle, selbst ein aus dem Boden gerissenes Wachhäuschen werden zu Barrikaden gestapelt. Aus den Gewehren der Polizei fliegen unterdessen unaufhörlich Tränengasgranaten. Selbst Passanten sieht man nur noch mit Atemmaske.

Während die ganze Nacht aus allen Teilen Istanbuls neue Unterstützer strömen, kritisieren manche aber auch den Protest. Als der Übertragungswagen eines Fernsehsenders in Flammen aufgeht und der dunkle Qualm über ganz Istanbul zu sehen ist, applaudieren Dutzende Passanten dem Einsatz des Polizei-Wasserwerfers.

»Geht doch bitte nach Hause« ist nicht nur die zynische Forderung aus den Lautsprecherwagen der Polizei, sondern auch die Forderung vieler Menschen im Istanbuler Stadtteil Beyoglu.

»So unfähig können sie nicht sein. Diese Eskalation war geplant«, sagt der Anarchist Kazim. Er ist am Mittwochmorgen damit beschäftigt, im Camp einen Versorgungsstand zu reparieren. Hier wurden Kekse, Medikamente und Tränengasmasken verteilt. Nun liegt alles zwischen zerrissenen Zeltplanen und gebrochenen Gestängen. Stundenlang lässt die Polizei am Dienstag einige gewalttätige Demonstranten gewähren. Immer wieder schleuderten Vermummte Molotowcocktails und Steine auf die Polizisten. »Keiner von uns weiß, wer das war, und anscheinend wurde auch keiner von ihnen festgenommen«, sagt Kazim. »Die Polizei wollte, dass es zu Unruhen kommt, um einen Vorwand zu haben, gegen uns vorzugehen«, fügt er hinzu. Derlei Vermutungen werden gestützt von Fotos, auf denen zwei Demon᠆stranten offenbar Polizei-Funkgeräte in den Taschen tragen.

Zumindest zum Teil ging dieser Plan auf. Trotz gegenteiliger Versprechen riss die Polizei am Dienstagabend Teile des Parks ab. »Wir haben Glück, dass niemand totgetrampelt wurde«, erinnert sich Kazim. Mit Schallgranaten löste die Polizei zwischenzeitlich auf dem Taksim-Platz eine Massenpanik aus. Der einzige freie Fluchtort für Tausende Demon᠆stranten war der bereits überfüllte Gezi-Park. »Danach haben sie uns auch noch mit Tränengas eingedeckt«, sagt Kazim über die Stunden, in denen die Sanitätstruppen des Camps fast minütlich Verletzte durch den Park trugen.

Am Morgen danach wollen nicht alle mit dem Protest weitermachen. Viele haben in der Nacht aus Angst ihre Zelte abgebaut, die Gestänge für den Barrikadenbau gespendet. »Lange kann ich diesen Terror nicht mehr ertragen«, sagt auch Meral, während entfernt schon wieder Sprechchöre nach dem Rücktritt Erdogans zu hören sind: »Tayyip istifa« - »Tayyip, hau ab!« Am Taksim-Platz klappen Touristen unterdessen ihre Schirme zusammen und posieren vor Wasserwerfern.

Das Unwetter hat sich verzogen. Das nächste kommt bestimmt.

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