Volksaufstand mit Pilsner Urquell

Maxim Gorki Theater: »Fünf Tage im Juni«, letztes Spektakel von Armin Petras

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Hof des Gorki-Theaters wird vor nachtnahem Himmel eine rote Fahne verbrannt. Dazu, gesungen wie ein leises Requiem, »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«. Und Ursula Werner erzählt von einem Marx-Bildnis, das ins Wasser geworfen wird, sich vollsaugt, untergeht. In Bild, Musik und Wort die Dreieinigkeit von Gewalt, utopischem Pathos und Götzensturz.

Was da zu sehen und zu hören ist, bedeutet Abrechnung und bleibt doch auch ein Aufseufzen: Wie viel verloren wurde, als man daranging, alles, nämlich eine Welt, zu gewinnen. Man kann Welten nicht gewinnen wollen, wenn der Mensch darin Mensch bleiben soll. Und der Mensch, das ist niemals nur das Ideal vom Menschen, sondern das ewig leibhaftige, unverlässliche Wesen zwischen Glanz und Elend.

Fahne, Lied, Marx. Das ist hier die Schluss-Szene von Stefan Heyms »Fünf Tage im Juni«, präsentiert in einer Lesung, die zugleich Spiel ist; die Aufführung wird platziert zwischen Bänke und Tische und Publikum, das kostenloses Pilsner Urquell und Bratwürstchen genießt. Begeisternd ernst und komisch, intensiv und neugierig agieren acht Leipziger Schauspielstudenten gemeinsam mit Ursula Werner. Die Studenten, das ist: Berliner Arbeiterschaft im Juni 1953, auf dem bangen, beseelten, besoffenen, bewussten, besinnungslosen, bespitzelten, berechtigt zornigen und letztlich blutigen Weg in den kurzen Volksaufstand des 17. Juni.

Zwischen Leben und Funktion, Anarchie und Kollektiv, Einzelmensch und Masse bewegen sich Heyms Gestalten. Ein Gleichnis für Geschichte: Natürlich ist ein Volksaufstand auch ein Aufstand der Volksfeinde. Flankenoffenheit ist das Grundgesetz von Freiheit, und Freiheit ist das Passwort auch für alle, die von allem immer das Gegenteil wollen. Daher ist Geschichte nur das Narkosewort für ein Chaos, das nie ein Ende hat. Nie gibt es eine Entsprechung von Plan und Praxis. Wissenschaftliche Weltanschauung? Führende Rolle und anderes Tralala? Nie wurde so viel von Arbeiterklasse gesprochen, wenn es darum ging, die Interessen des einzelnen Arbeiters zu missachten. Aber wo der Sinn für den Einzelfall verloren geht, beginnt die Unmenschlichkeit. Also: Auch die SED war ein Volksfeind und die Dogmatik die eigentliche Konterrevolution.

Das alles ist in Jan Neumanns Inszenierung ein sarkastisches, unsentimentales, schnelles Spiel - wenn den Funktionären die Worte fehlen, lassen die Spieler aus Luftballons die Luft herauszischen, und Luftballons sind es später, die haufenweise zerknallt werden, wenn auf den Straßen Schüsse fallen. Der Schreibtisch von Staatsmacht, Partei und Werkleitung klemmt klobig zwischen den Zuschauerbänken - Ursula Werner zeigt Obrigkeit in verzweifeltem Eifer, tragischer Hilflosigkeit und keifendem Einschüchterungston.

Fünf Tage im Juni. So heißt auch das Abschluss-Spektakel im Maxim Gorki Theater: Der Weg in den Sommer mündet für den Intendanten Armin Petras in den Weg nach Stuttgart. Abschied also. Und an fünf Abenden noch einmal das, was Petras' Ära ausmachte: Premierenfülle und Ideeenwucherung, als sei das Wort Metastase ein Begriff der puren Lust. Noch einmal Trubel, der nur eines nicht sein darf: perfekt. Stücke, Improvisationen, Lesungen; Vorplatz, Bühne, Studio, Garten und nähere Umgebung als Rummelplatz. Petras immer mittendrin. Der Bursche mit der Glatze ist wie sein Theater, und das ist stets eine irr quirlige, überdrehte, harte, wilde, schwitzende, improvisierende, rasende, kindliche Spielbude gewesen, in der mit Texten nur so gewürfelt wird.

Petras jagt(e) inszenierend durch Deutschland, wurde niedergeschrieben, hielt durch, kam irgendwann zum Theatertreffen - und bekam als Dramatiker Fritz Kater Preise. Seine Zeit in Berlin: eine Theatralik jener Verwundung, die den Menschen trifft, wenn er zu schmächtig ist für die Kälte der Welt. Bei diesem Meister des flinken Unfertigen und der hurtigen Literaturbearbeitungen ist die Traurigkeit ein kostbarer Schattenfleck auf Lichtungen der Clownerie. Ein Immerwerker ist Petras, der nur die Unablässigkeit leben kann, nicht die Lässigkeit.

Gefragt, ob der 1965 im Westen Geborene, mit den Eltern in den Osten Übergesiedelte, später wieder Ausgereiste in der DDR unglücklich war, sagte er: »Natürlich. Es war meine glücklichste Zeit.« Der Schmerz als Motor für Geist und Gemüt, nicht der Friedensschluss mit der versäumten Entschiedenheit zum Zweifel. Warum der Assistent am Deutschen Theater damals ausreiste? »Während meine Freunde im Stasiknast saßen, konnte ich nicht mehr länger so tun, als sei die Welt so in Ordnung, wie es im ND stand.«

Zum Auftakt des Spektakels war der junge ungarische Regisseur David Marton auf die Bühne des Theaters getreten, er teilte die Absage seiner geplanten kurzen Inszenierung mit, setzte sich an den Rand an einen Tisch und verlas eine Rede zum bösen politischen Zustand seines Heimatlandes. Der Verzicht auf Theater als Rückkehr in dessen Zentrum: in den öffentlichen Disput. Martons Rede: wütend, witzig, weitgeistig; der Redner von wärmender Intelligenz und bezwingender Bescheidenheit. Sehr viel Applaus.

Aenne Schwarz und Paul Schröder in »Der Aufstand der Sprache«, einem Slapstick-Projekt von Antú Romero Nunes: der Versuch, in einem italienischen Restaurant »Paparapupi« zu bestellen, erhebt das verwirrende, verwurstelte, verflixte Spiel mit diesem Wort zur kleinen Variation von Herbert Fritschs »Murmel, Murmel« an der Volksbühne. So prustet der Abend, um unmittelbar danach in Monologe von Sterbenden zu kippen und videobebilderte Informationen zum Wachsen von tödlichen Tumoren im Körper irrwitzig zu koppeln mit dem Krebs der Finanzkrise, der den Gesellschaftskörper auffrisst: »In der Schlangengrube« von Armin Petras und Jan Kauenhowen, mit Wilhelm Eilers, Johann Jürgens, Regine Zimmermann, Regie: Sebastian Baumgarten.

Achtzehn Premieren, dreizehn Regisseure, noch einmal fast alle Schauspieler: Petras bleibt bis zum Schluss ein heiter Gejagter; was ihn jagt, sind Probleme, bei denen er nicht auf Lösung baut, aber sehr wohl darauf, dass die Debatte darüber keinen Aufschub duldet. Sein Theater rotiert als Durchlauferhitzer für den Zorn und die Zerreißthemen der Zeit. Zeit? Das ist nur immer die Ewigkeit der nächsten Augenblicke. Lebe den Tag, der in jeder Sekunde steckt! Und in diesen fünf Tagen im Juni.

Spektakel »Fünf Tage im Juni«: heute und Sa (jeweils ab 16 Uhr) sowie So (ab 15 Uhr)

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