nd-aktuell.de / 17.06.2013 / Kultur / Seite 16

Ohne Scheu

Der 17. Juni im Blick der Stasi

Karlen Vesper

Zwischen Super-Vision und Superkalamität» umriss die Berliner Historikerin Wilfriede Otto einmal die Ereignisse im Juni 1953 in der DDR. Dies ist wohl treffender als alle Etikette, die jenen dramatischen Tagen aufgedrückt werden (Aufstand, Revolte, Putsch, Revolution, Intrige Berijas, Coup des RIAS etc.) und die stets eine Wahrheit ausklammern. Die Crux begrifflicher Fassbarkeit war auf Diskussionsforen dieser Tage erneut erlebbar und in neunmalklugen Medien lesbar.«

Erstaunlich nüchtern notierten damals die Berichterstatter der Staatssicherheit, was sich vom Fichtelberg bis Kap Arkona ereignete oder eben nicht. In den Bezirken Schwerin, Rostock, Neustrelitz und Suhl blieb es ruhig, während aus Dresden, Karl-Marx-Stadt, Leipzig, Erfurt zahlreiche Aktionen zu vermelden waren. Es brodelte in Halle, Magdeburg, Gera, Potsdam und Cottbus. Fast im Viertelstundentakt, mitunter darunter, wurde das brenzlige Geschehen am 17. Juni in Berlin festgehalten. Forderten die sich um 8.50 Uhr zum Haus der Ministerien bewegenden und ein Transparent mit der Aufschrift »In der Einheit der Arbeiterklasse liegt die Kraft« tragenden Demonstranten Norm- und Preissenkung, so erscholl aus dem um 9.30 Uhr hinzustoßenden Protestzug der Ruf nach freien Wahlen. Beobachtet wurde ein Zustrom von zumeist jugendlicher Westberliner: »Am Brandenburger Tor wurde die rote Fahne heruntergeholt.« Nach der Zeitangabe 10.35 Uhr ist von Demonstranten in der Friedrichstraße zu lesen, die das »Deutschlandlied« und »Schlesier-Lied« sangen. »VP setzte Wasserwerfer ein. Die Demonstranten griffen mit Steinen an.«

Roger Engelmann, Mitarbeiter der Jahn-Behörde, hat aus dem Konvolut der Akten eine Auswahl getroffen und mit einer Vor- wie Nachgeschichte reflektierenden Einleitung versehen. Er schreibt: »Eine Stärke der Berichterstattung des Jahres 1953 zeigt sich bei der Wiedergabe von Stimmungen, die einen sehr großen Raum einnimmt und häufig außerordentlich authentisch wirkt, was daran liegt, dass Äußerungen durchweg mehr oder weniger wörtlich zitiert werden. Die spätere Scheu, ›feindliche‹ Meinungsbekundungen im Originalton zu reproduzieren, ist hier noch nicht vorhanden.« Engelmann informiert zudem, dass die regelmäßige Berichterstattung der Stasi an die SED-Spitze im eben jenem Jahr 1953 begann.

Roger Engelmann (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1953. Vandenhoeck & Ruprecht. 320 S., geb. mit CD, 29,90 €.