Hoffen auf die Demokratie

Der Publizist Günter Wallraff über den erneuten Prozess gegen den Schriftsteller Dogan Akhanli und die Islamisierung der Türkei

  • Lesedauer: 4 Min.
Der Publizist Günter Wallraff wird beim erneuten Prozess gegen den Kölner Schriftsteller Dogan Akhanli als Beobachter vor Ort sein. Die Türkei sei auf dem Weg in die Islamisierung und werde zu einem bekennenden Unrechtsstaat, sagt der Publizist im Interview mit Uli Kreikebaum.

nd: Dogan Akhanli wird in der Türkei am 31. Juli erneut der Prozess gemacht. Obwohl ein Gericht ihn vom Vorwurf, an einem Raubüberfall mit Mord beteiligt gewesen zu sein, freigesprochen hat. Alle Zeugen hatten ihn entlastet. Wofür steht die Wiederaufnahme des Verfahrens?
Wallraff: Der Fall Akhanli ist leider kein Einzelfall. Auch die Autorin und Frauenrechtlerin Pinar Selek ist ja in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt worden – nachdem sie zuvor viermal freigesprochen worden war. Selek wurde ein Bombenanschlag angelastet, obwohl sich im Nachhinein herausstellte, dass die Ursache eine explodierende Gasflasche war. Die Prozessfarce war ähnlich absurd. Kritische Journalisten werden entlassen, Künstler willkürlich kriminalisiert. Die Türkei will dadurch Kritiker abschrecken, die sich für Demokratie, Pressefreiheit und Menschenrechte einsetzen. Rechtsstaatlichkeit darf in so einem System nichts bedeuten.

Will das Land nicht mehr in die EU?
Ich glaube, diesen Wunsch hat die Türkei längst aufgegeben. Das Land geht den Weg in die Islamisierung und wird zu einem bekennenden Unrechtsstaat. Laizistische Lehrer werden abgesetzt, kritische Studenten von der Universität geworfen, die Presse zunehmend auf AKP-Linie getrimmt, nicht genehme Journalisten werden ausgebootet oder sogar inhaftiert. Richter werden vom Staat gezwungen, ihre Freisprüche zu kassieren – die Fälle Akhanli und Selek sind nur zwei prominente Beispiele von vielen.

Wofür stehen die aktuellen Demonstrationen gegen Ministerpräsident Erdogan?
Ein großer Teil der Bevölkerung, der sich bisher wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs zurückgehalten hat, merkt inzwischen, dass Erdogan mit seinem autokratischen Sultansgehabe eine radikale, alle Lebensbereiche erfassende Islamisierung betreibt. Das Fällen der Bäume auf dem zentralen Taksim-Platz war lediglich der Auftakt für eine parteiübergreifende und selbstbewusste Demokratisierungsbewegung unterschiedlicher Schichten, die – das ist Neue – keine Anführer braucht.

Wohin kann diese Bewegung führen?
Zu hoffen ist, dass es zu einer Stärkung und Souveränität der demokratischen Zivilgesellschaft führt und nicht die Drohung Erdogans, Millionen seiner Anhänger auf die Straße zu bringen, am Ende noch einen Bürgerkrieg provoziert.

Der verlorene Sohn

Ein türkisches Gericht hob den Freispruch gegen Dogan Akhanli auf – doch Ende Juli wird dem in Köln lebenden Schriftsteller erneut der Prozess gemacht. Bei Akhanli reißt ein Trauma auf, das er glaubte, nach 22 Jahren überwunden zu haben. Mehr

Im Oktober 2011 ist Akhanli wohl auch wegen öffentlichen Drucks freigesprochen worden. Sie haben den Prozess vor Ort beobachtet. Als bekannt wurde, dass ihm erneut der Prozess gemacht wird, haben ein paar Kultur-Journalisten berichtet, sonst blieb es erstaunlich ruhig. Zu ruhig?
Öffentlicher Druck ist ungemein wichtig. Man würde sich bei derartigen Fällen von Willkür in der türkischen Justiz wünschen, wenn der Außenminister oder die Kanzlerin sich zu Wort melden würden. Angela Merkel hat das, wenn es um Menschenrechte in China oder Russland ging, zumindest ab und zu zaghaft mal getan. Aber man darf da von der Politik nicht zu viel erwarten – wirtschaftliche Interessen sind der Regierung bekanntlich wichtiger.

Was werden sie tun, wenn am 31. Juli der neue Prozess gegen Akhanli beginnt?
Ich werde wieder vor Ort sein – wenn man mich denn lässt. Seit meinem Buch „Ganz unten“, für das ich ja zwei Jahre lang in der Rolle eines türkischen Gastarbeiters unterwegs war, habe ich viele Freunde in der Türkei. Meine Bekanntheit möchte ich nutzen, um auf die katastrophale politische Entwicklung des Landes aufmerksam zu machen.

Sie haben Anfang des Jahres im Berliner Senat einen Deutsch-Türkischen Kulturpreis erhalten. Geehrt wurden Sie unter anderem, weil das Buch „Ganz unten“ so viel bewegt habe. Haben die Türken sich inzwischen geärgert, Ihnen den Preis verliehen zu haben?
Weiß ich nicht. Ich habe zumindest auch bei der Preisverleihung angesprochen, wie unsäglich die Türkei Systemkritiker behandelt und wie intolerant das Land mit christlichen Kultstätten umgeht. Das steht in keinem Verhältnis zur Bereitschaft der deutschen Politik, Moscheen zu akzeptieren und sich für sie einzusetzen.

Wie hat der türkische Botschafter, der Ihnen den Preis verliehen hat, auf Ihre Kritik reagiert?
Wallraff: Er hat das relativiert und darauf verwiesen, dass es inzwischen immerhin auch eine armenische Kirche in Istanbul gebe. Eine! Das viele Türken den Völkermord an den Armeniern bis heute leugnen und Armenier weiter diskriminiert werden, hat er nicht angesprochen. Die Armenier-Frage ist ja eines der großen Themen von Dogan Akhanli. Dieser Genozid ist für die Türkei nach wie vor unbewältigte Vergangenheit, das ist der Hauptgrund dafür, seinen Fall nun erneut vor Gericht zu zerren. Das ist reinste Rache- und Willkürjustiz.

Interview: Uli Kreikebaum

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