Aufrechter Gang in Schräglage

Schauspiel Dresden: »Vom Wandel der Wörter« von Ingo Schulze. Ein Deutschlandbericht

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Modern zu sein heißt: Tragödien wunderbar auszuhalten, Katastrophen mit Geduld zu bewirtschaften, alle Demütigungen galant zu moderieren und noch die heftigsten Zurücksetzungen in preiswürdige Aufsätze zu verwandeln. Der Intellektuelle der Gegenwart fertigt aus Bevormundungen und Bedrängungen brillante Kolumnen. Wir nennen dies, mal hochtrabend, mal herablassend: Diskurs. Und sind allesamt Mitwirkende, freilich unterschiedlich dotiert. Debatte? Streit? Auseinandersetzung? Allerorten wird doch nur zum kulturkritischen Stilsalat gebeten, für den Zitate von Adorno oder Sartre oder gar Marx die Geschmacksstoffe einer geistigen Radikalität liefern, die wir zwar aufrufen, aber im eigenen Handeln tunlichst vermeiden.

Ja, alles ist schlecht, das Politikniveau, die Umgangsart, die Kirche, die Integrationspolitik, die Toleranzkraft der Gesellschaft, das Regietheater, die Volksmusik, das Fernsehen zur Prime Time; alles ist deshalb fortwährende Giftsentenzen wert und Früher-war's-besser-Sätze. Aber: Die Grobheit der TV-Serien, der Epidemiecharakter des Digitalen, der Rausch des Konsums, der Stress der Leistung, das Mobbing, die allgemeine Maskerade, das Ödfeld sämtlicher Parteien, das deutsche Volk und dieser gierige Kapitalismus sowieso - dies alles wird doch nicht wirklich durch Kritik in Krisen gebracht.

Nein, noch das böseste Räsonieren ist Ausdruck für den ausgeprägten Teilhabe-Ehrgeiz der Räsoneure - Teilhabe am Marktsegment für mediale Selbststeigerungen. Dieses Marktleben baut Überzeugungen und jene ungehobelten Ursprünglichkeiten ab, die den Zorn anleiten - ersetzt werden sie durch ein wendiges Bewusstsein davon, dass überall Fluchtweg und Seitenausgänge existieren. Wir leben am Ende der Dissidenz.

Darüber empört sich Ingo Schulze. Er empört sich fragend, suchend, in Mitleidenschaft gezogen. In seinem Text »Vom Wandel der Wörter. Ein Deutschlandbericht« erzählt er von Leben und Tod des DDR-oppositionellen, zu Haft verurteilten Schriftstellers B. C., der dann im Westen als Stichwortgeber für Antikommunismus herumgereicht wird, aber nach der Wiedervereinigung, nun beraubt der früheren Stoffe und Antriebe, alle dichterische Kraft verliert. Und sich auflädt mit neuer Unversöhnlichkeit: Offengelegt wird das langsame Begreifen einer tiefen Krise und ein wachsender Widerwille gegen jene, »die dem Boden vertrauen, auf dem sie leben, die sich zwar ständig echauffieren, aber über die grundsätzlichen Dinge, die Besitzverhältnisse, die Unterwanderung der Politik durch die Wirtschaft, die beginnende Armut kein Wort verlieren oder sich einfach damit abfinden, dass Geld die Welt regiert.«

So kommt es, dass der Antikommunist B. C. plötzlich als links verschrien wird. So kommt es, dass einer am liebsten all seine Bücher umschreiben möchte. So kommt es, dass einer im Verwöhnungsraum Westen als Nestbeschmutzer gilt. Dieser Westen wiederholt den Osten: »Widerspruch wird bestraft, Anpassung belohnt - das ist das Grundgesetz der massenweisen Produktion von Opportunismus.« Gern hörte man dies und drehte B. C. die Mikrofone hin, wenn es ein Urteil über die DDR war; jedoch rasch abgewendet die Schultern und die Mikrofone, wenn einer derart angewidert über die »freiheitlich demokratische Grundordnung« spricht.

Am Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden besorgte Christoph Frick die Uraufführung von Schulzes Text (Bühne: Alexander Wolf). Ein Prosatext in Briefform, hier zur Spielmöglichkeit aufgebrochen. Drei Figuren, drei Stimmen. Monologe, Dialoge, dazwischen kommentierende Überleitungen. Auf der Bühne die Großbuchstaben des Begriffs »Das Deutschlandgerät«. Sie werden zu Bauklötzern, werden Tisch, Stuhl, Computertastatur. Deutschlandgerät? So heißt eine Hydraulikanlage im Bahnbetrieb, um Waggons wieder auf Gleise zu setzen, und so heißt auch eine Kunstinstallation von Reinhard Mucha, 1990/2002 auf der Biennale in Venedig: Technik zum Umgang mit komplizierten Schräglagen - als Stoff für Poesie. Schräglage ist erste Lebenslage. Die's bleibt, auch wenn vom aufrechten Gang die Rede ist.

Auch die Bühne wandelt sich zur Schräge (nichts fließt, aber alles rutscht), drunter später das Grab für B. C. Holger Hübner gibt ihn als stabilen Beobachter, der aber mit zunehmend nervöser Reizbarkeit in eine bebende Aggressivität kippt. Eine Einladung an den Infarkt. Sonja Beißwenger ist des Schriftstellers Frau, die ihm im Westen jegliche Geldsorgen nahm, aber die mit lässigem Charme, kecker Natürlichkeit und geradezu vibrierender Fürsorge doch auch nur ins Scheitern hineinleben kann. Matthias Reichwald (auch er zunächst, wie Hübner, mit einer Schulze-Lockenperücke) spielt einen jüngeren Schriftsteller, dessen Verehrungsintensität gegenüber B. C. ihm zur ethisch-politischen Selbstprüfung gerät: An welchen Ort gehst du selber, mit offenem Visier, um verwundet zu werden?

Schulzes Text ist hochkarätige Verzweiflungsphilosophie - was insofern eine Tautologie bedeutet, da jedes Philosophieren ein ungesichertes Fragen bedeutet. Denken kommt an kein Ende. Also steht zur Alternative: entweder eine Denkkultur der Freiheit um den Preis der Gewissheiten - oder eine Denkkultur der Unfreiheit und also ein Zur-Ruhekommen in Systemen, dies aber um den Preis von uns selbst. Philosophie ist die Kultur der Freiheit, demnach das Gegenteil von Modellbau, deshalb kann wahrhaftige Welt-Anschauung nicht wissenschaftlich sein. Die Welt folgt keinem Gesetzeswerk, auf das sich Reiche dauerhaft gründen ließen wie Natürliches auf physikalischen, chemischen oder biologischen Grundlagen. Ein Umstand, der für Interpretationen der Welt eine klare Konsequenz hat: Sie geraten nämlich irgendwann in, ja: Schräglage; Eben noch feste Definitionen rutschen in neue Zusammenhänge, sind plötzlich Fremdkörper und verlieren an Behauptungskraft. Immer ist der wertende Blick auf Geschichte und Politik eine Vorläufigkeit, ein Provisorium.

Schulzes B. C. erläutert das am Beispiel des von ihm früher hart und harsch erhobenen Vorwurfs, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen. Das könne er nunmehr nicht so ohne Weiteres wiederholen, und sei es auch die Wahrheit. Denn das Urteil bedeute »heute etwas anderes als damals, bediene ganz aktuelle Interessen und werde wie ein abschließender Stempel gebraucht, wie ein: erledigt«, und man könne dann auch nicht mehr darüber sprechen, dass dieses einstige Land »vielleicht ein besseres Familienrecht und ein besseres Arbeitsrecht gehabt hätte, dass es also hier und jetzt Dinge gäbe, die geändert werden müssten.«

Theater ist Spiel. Spiel will den Körper. Manchmal sind da nur Köpfe. Rollen nicht, aber rotieren. Also: Sie denken, laut. Wann schon kann man Köpfen beim Denken zuschauen? Auf Parteitagen? An Parlamentspulten? In Regierungssitzen? Kaum. Theater bietet da gern seinen Trost an. Wie hier in Dresden. Neunzig Minuten lang lautes Denken gegen die Feigheit, gegen die politische Korrektheit, gegen die Stromlinie. Denken, ins Kostüm einer Bühnenkonstruktion gesteckt, aber doch durchgehend nackt, aufgerissen, direkt, aufregend. Der Wandel der Wörter und die Haltbarkeit des Charakters; das Talent, das in die Welt will, und der Sinn, der Gegenwelt will ...

Nächste Vorstellung: 21. Juni

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