Der verlorene Sohn

  • Uli Kreikebaum
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein türkisches Gericht hob den Freispruch gegen Dogan Akhanli auf – doch Ende Juli wird dem in Köln lebenden Schriftsteller erneut der Prozess gemacht. Bei Akhanli reißt ein Trauma auf, das er glaubte, nach 22 Jahren überwunden zu haben.

Dogan Akhanli steht vor den offenen Zellentüren des ehemaligen Gestapogefängnisses im Halbdunkel, ein kleiner Mann mit melancholischem Lächeln. Er schaut auf die Liebesbriefe und Abschiedsgedichte, die Häftlinge in den Beton gekritzelt haben. Gewalt und Terror sind Akhanlis Lebensthemen geworden, der Holocaust an den Juden, der auch hier im Kölner El-De-Haus vorbildlich aufgearbeitet werde, wie der Genozid der Türken an den Armeniern, der von vielen Türken, so Akhanli, noch immer geleugnet werde. Manchmal führt Akhanli Deutsche und Türken durch die Zellen; auf die Warum-Fragen, die dann immer wieder aufkommen, weiß er keine Antwort. Er weiß ja, wie es ist, im Gefängnis zu sitzen, ohne Grund, und gefoltert zu werden, ohne Grund. Am 31. Juli muss der türkischstämmige Kölner Schriftsteller sich zum zweiten Mal wegen Raubüberfalls und Raubmords verantworten - ohne Grund. Oder kann es ein Grund sein, immer wieder den Finger in die Wunde geleugneter Geschichte zu legen? »Es hat sicher damit zu tun«, sagt er leise. »Aber ich werde mich nicht beugen.«

Im Sommer 2010 war Akhanli bei der Einreise in die Türkei festgenommen und inhaftiert worden. Der Raubmord-Vorwurf erwies sich im Prozess als haltlos: Alle Zeugen, auch Hinterbliebene des Opfers, die am Tatort waren, entlasteten Akhanli, das Gericht sprach ihn frei. Internationale Medien hatten den Prozess beobachtet, nicht nur der Kölner Publizistik Günter Wallraff sprach vor Ort von »erschreckender Willkür der türkischen Justiz« - und tut es nun wieder. »Kritische Journalisten werden entlassen, Studenten exmatrikuliert, Intellektuelle wie Akhanli oder die Frauenrechtlerin Pinar Selek kriminalisiert. Die Türkei zeigt sich als bekennender Unrechtsstaat«, sagt Wallraff, der erneut als Beobachter zum Prozess reisen wird.

Dogan Akhanli fühlt jetzt wieder eine Unsicherheit in sich, die er glaubte, nach 22 Jahren endlich überwunden zu haben. Jahrelang saß er in seiner kleinen Wohnung im Kölner Stadtteil Ehrrenfeld vor einer hohen Bücherwand, starrte seine Laute an oder die von der Mutter gesteppte Decke und fühlte sich seiner nicht sicher. Laute und Decke hatte der gelernte Instrumentenbauer Akhanli mitgenommen, als er 1991 mit seiner Familie nach Deutschland floh, um sich zunächst in einem Asylbewerberheim in Bergisch Gladbach, später dann in Köln wiederzufinden. Geflohen war er, weil er sich in seiner Heimat nicht mehr willkommen fühlte. Nach dem Militärputsch 1980 war er als linker politischer Aktivist in den Untergrund gegangen, 1985 - das gemeinsame Kind war 14 Monate alt - nahm man ihn und seine Freundin fest. Über zwei Jahre im Militärgefängnis machten einen anderen Menschen aus Dogan Akhanli. Meistens verbanden sie ihm und der Freundin beim gemeinsamen Verhör die Augen, einmal ließen sie ihn sehen, wie seine Geliebte aussah, um ihn zum Reden zu bringen. Er habe die Freundin damals kaum wieder erkannt, und doch nicht die codierten Namen seiner Organisation preisgegeben, die er in einem Büchlein bei der Verhaftung mit sich führte. Er heiratete seine Freundin im Gefängnis, vier Jahre später die Flucht nach Deutschland. In die Türkei zurückkehren konnten beide nicht. »Ich habe den türkischen Staat damals gehasst und sogar überlegt, nie wieder türkisch zu sprechen«, sagt Dogan Akhanli. Jetzt hasst er die Türkei wieder.

Seine Unruhe beschreibt Akhanli bei schwarzem Kaffee und selbst gedrehten Zigaretten als »Natter im Herzen«. Die Beunruhigung in Worte zu fassen, fällt ihm schwer. Zum Teil seien es die täglichen kleinen Katastrophen gewesen, die bürokratischen Fratzen, Unverständlichkeiten in einem fremden Land. »Ich hatte bei allem, was ich tat, Angst, nicht anerkannt zu werden. Und auf der anderen Seite war da die Sehnsucht nach der Heimat, die nicht mehr erreichbar war, weil ich als ehemaliger politischer Aktivist, der schon einmal im Knast war, nicht zurückkonnte.« Akhanli konnte nicht zurück, als ein Jahr nach der Flucht seine Mutter starb, und nicht, als wenig später der älteste Bruder starb.

Wenn er in seiner kleinen Wohnung saß und an Heimat dachte, kamen Akhanli die dunkelroten Winteräpfel seines Bergdorfs Ciritdüzü an der Grenze zu Georgien in den Sinn, die Maulbeerbäume dort und der würzig duftende Wacholder, das Heulen der Wölfe und die Tatzenabdrücke der Bären, die frühmorgens bis zu den Gemüsebeeten der Vorgärten kamen. Die deutschen Äpfel, die Tomaten, die Kartoffeln und der Wein, der Döner und das Börek in den Imbisstuben, all das schmeckte ihm fad. Er sagt: »Wenn man sich nicht zu Hause fühlt, sind die Sinne betäubt.«

Sein Zuhause, das war früher Ciritdüzü, ein kleines Dorf im Nordosten der Türkei. Bis 1982 gab es dort keine Strommasten. Kein Fernsehen, Radio nur mit Batterien. Von der Moderne waren die Menschen dennoch nicht abgeschnitten, im Gegenteil: Die Mädchen im Dorf trugen Miniröcke, die sie in Burda-Zeitschriften gesehen und nachgenäht hatten. Akhanlis Vater war Lehrer der ersten Schule im Dorf, die Mutter las den Kindern Bücher von John Steinbeck, Victor Hugo und Thomas Mann vor, noch bevor Dogan in die Schule ging.

Über Beethoven wusste Dogan Akhanli als Jugendlicher mehr als die meisten Gleichaltrigen in Berlin oder Zürich. An den Ramadan hielt sich in Ciritdüzü keiner, Kopftücher trugen höchstens die Alten, während in Westeuropa hitzige Kopftuchdebatten aufflammten. Später, als es im Westen zur Mode wurde, Angst vor islamischem Fundamentalismus zu schüren, wusste man in Ciritdüzü kaum, dass es so etwas gibt.

Als Jugendlicher ging Akhanli mit seinen Eltern nach Istanbul. Er war 18 und Student, als er erstmals inhaftiert und gefoltert wurde. »Weil ich eine linksgerichtete Zeitung gekauft hatte«, sagt er. Erst nach der Erfahrung der willkürlichen Folterung schloss er sich einer kommunistischen Untergrundbewegung an. Tauchte in einem Küstenort unter und verdiente sein Geld als Fischer. Nach seiner zweiten, zweieinhalbjährigen Haft- und Foltererfahrung gab Akhanli den politischen Kampf auf. Die ideologischen Parolen kamen ihm plötzlich idiotisch vor, die Wörter waren verbraucht.

Deutschland, Türkei, Christ, Muslim, Atheist, darüber lächelt er stumm. Seit 2001 hat Akhanli einen deutschen Pass, aber das heiße doch nichts. Nationalität und Religion waren ihm nie wichtig. Es ging ihm immer um das verlorene Heimatgefühl. Die verschollene Empfindung fand er im Sommer 2012 wieder. Da reiste Akhanli unbehelligt vom türkischen Staat in sein Heimatdorf. Er blieb drei Monate, schmeckte die Äpfel, sah morgens die Bären ans Haus kommen, roch den Wacholder, tanzte mit Schulfreunden - die Menschen empfingen ihn als verlorenen Sohn. Er hätte in Ciritdüzü bleiben können, entschied sich aber, nach Köln zurückzukommen. »Seitdem weiß ich, dass ich völlig freiwillig hier lebe«, sagte er nach der Rückkehr. Und: »Ich bin jetzt ein ruhiger Mensch, die Natter im Herzen hat sich verzogen.«

Nun ist die Natter wieder da. Sie zischelt wieder, seit er Mitte April den Brief vom Istanbuler Revisionsgericht erhielt. Plötzlich war der verlorene Sohn wieder schuldig. Akhanli war da gerade eine Woche zurück aus der Türkei. Gegen den Rat von Freunden hatte er in Istanbul öffentlich gelesen. Zum Prozess wird er Ende Juli nicht nach Istanbul reisen. Die Gefahr, erneut inhaftiert zu werden, wäre zu groß. »Solange ich in Deutschland bin«, sagt Akhanli, »fühle ich mich sicher.«

Der Publizist Günter Wallraff über den erneuten Prozess gegen den Schriftsteller Dogan Akhanli und die Islamisierung der Türkei

Der Publizist Günter Wallraff wird beim erneuten Prozess gegen den Kölner Schriftsteller Dogan Akhanli als Beobachter vor Ort sein. Die Türkei sei auf dem Weg in die Islamisierung und werde zu einem bekennenden Unrechtsstaat, sagt der Publizist im Interview mit Uli Kreikebaum. Mehr
 

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