Bewegung im Fall Timoschenko?

Indizien sprechen für baldige Freilassung der früheren ukrainischen Regierungschefin

  • Julian Vetten
  • Lesedauer: 4 Min.
In den Fall der zu sieben Jahren Haft verurteilten ehemaligen ukrainischen Regierungschefin Julia Timoschenko scheint Bewegung zu kommen: Der Druck der EU könnte Früchte tragen.

Jenseits der Öffentlichkeit, nahezu konspirativ, fanden kürzlich Gespräche statt, die Spekulationen befeuern, wonach die seit zwei Jahren inhaftierte Julia Timoschenko die Ukraine im Frühherbst verlassen könnte, um vermutlich in Berlin operiert zu werden. Eine solche Überstellung käme einer zweifachen Amnestie gleich: Zum einen fände damit ihre siebenjährige Haftstrafe ein vorzeitiges Ende, zum anderen erledigten sich die seit Februar vor Gericht in Kiew geführten Untersuchungen, ob Timoschenko 1996 in einen Auftragsmord an dem Abgeordneten und Unternehmer Jewgeni Schtscherban verwickelt war.

Viktor Bach ist Anwalt. Er führt in Hamburg in St. Georg, in Sichtweite der Alster, eine Kanzlei. Zu seinen Klienten gehören vornehmlich Menschen, die russisch sprechen wie er. Bach kam Anfang der 90er Jahre mit seinen Eltern aus Kasachstan nach Deutschland. Er studierte Jura und arbeitet seit acht Jahren als Anwalt für Strafrecht. Einer seiner Mandanten ist der ukrainische Ministerpräsident Mykola Asarow. Bach verteidigt ihn vor einem Hamburger Gericht in einem Verfahren, das Julia Timoschenko gegen den Regierungschef angestrengt hatte. Mit Bezugnahme auf Akten aus den USA, wo Timoschenkos einstiger Vorgänger und Förderer Pawlo Lasarenko zu neun Jahren Haft verurteilt worden war, hatte er in einem ARD-Interview Äußerungen getan, die Timoschenko mit Hilfe von Anwälten zurückwies. Das Verfahren schrieb zwar Rechtsgeschichte - erstmals klagte eine auswärtige Politikerin gegen einen ausländischen Politiker vor einem deutschen Gericht -, fand aber in der hiesigen Presse keinen Niederschlag. Vermutlich, weil Asarow recht bekam und Timoschenko unterlag.

Man müsste über dieses Verfahren aus dem Herbst 2012 auch jetzt kein Wort verlieren, doch eben jener Anwalt Viktor Bach wurde nun von Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu einer Zusammenkunft nach Straßburg gebeten, um zum Thema »EU - Ukraine: Wege und Perspektiven der Zusammenarbeit« Auskunft zu geben.

Die Straßburger Konsultation fand zur selben Stunde statt, da sich Charité-Chef Karl Max Einhäupl und seine Kollegin Anett Reißhauer im Charkiwer Eisenbahnerkrankenhaus mit Julia Timoschenko trafen - nämlich vor gut einer Woche. Anschließend legte Einhäupl auf die Feststellung wert, dass die Unterredung mit der Patientin erstmals ohne Sicherheitspersonal und Überwachungskamera erfolgt sei. Und er erklärte, dass Timoschenkos Gesundung von ihrem Bandscheibenleiden nicht vorankomme, weshalb er eine Operation nicht mehr ausschließe.

Wo diese Behandlung stattfinden sollte oder könnte, sagte Einhäupl nicht. Das tat stattdessen die polnische Zeitung »Gazeta Wyborcza« noch am gleichen Tag in ihrer Online-Ausgabe: Sie meldete, dass Timoschenko am 15. September ausreisen würde, um sich an der Berliner Charité operieren zu lassen. Genährt wurde die Spekulation auch vom polnischen Altpräsidenten Aleksander Kwasniewski, dem Ukraine-Emissär des EU-Parlaments. Gegenüber Polskie Radio hatte er erklärt, es bestehe »eine Chance, dass Timoschenko vor Ende September zur medizinischen Behandlung ins Ausland ausreisen darf«.

Hinter vorgehaltener Hand raunte man in Kiew, USA-Botschafter John Tefft und Brüssels Abgesandter Jan Tombinski hätten mit den Verantwortlichen in der Ukraine gedealt. Bei Timoschenkos Freilassung würde das bereits am 30. März 2012 parafierte und seither auf Eis liegende Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU endlich unterzeichnet werden.

Die Zeichen deuten also darauf hin, dass der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch dem Druck nachgeben wird, um mit einer »humanitären Geste« den Weg seines Landes nach Westeuropa zu ebnen. Im außenpolitischen Interesse der Ukraine mag das verständlich sein, innenpolitisch ist es das eher nicht. Entweder gilt gleiches Recht für alle oder es gilt eben nicht. Viele Menschen in der Ukraine werden sagen: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Es ist wie immer.

In Kiew sprach ich dieser Tage mit Mykola Obichod. Der einstige Generalleutnant der Justiz verfolgt als Rentner den Prozess im Mordfall Schtscherban. Natürlich müsse auch für Timoschenko der Grundsatz gelten: im Zweifelsfall für die Angeklagte. Wenn man ihr nicht beweisen kann, dass die bewussten drei Millionen Dollar für den Auftragsmord von ihrem Konto kamen, muss man sie freisprechen. Aber sie laufen zu lassen, nur um Kritiker im Westen ruhigzustellen, habe wenig mit Rechtsstaatlichkeit zu tun.

Für Obichod besteht kein Zweifel an der Mitschuld Timoschenkos. Wer, wenn nicht er, muss es wissen. Er hatte seit 1997 gegen sie ermittelt. 2001 kam sie zum ersten Mal in Untersuchungshaft. Dann wurden die Untersuchungen eingestellt. Aus politischen Gründen. Wie soll, sagt Obichod, unter solchen Umständen Vertrauen in die Institutionen des Staates und deren Berechenbarkeit wachsen?

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