nd-aktuell.de / 19.06.2013 / Brandenburg / Seite 9

Stress auf dem Oranienplatz

Nach einer Messerattacke eskalierte die Situation rund um das Flüchtlingscamp

Martin Kröger

Am Morgen danach sind die Gemüter im Flüchtlingscamp auf dem Oranienplatz immer noch erhitzt. »Wir haben Angst, wenn ein Mann hier herkommen kann und einen von uns mit dem Messer absticht«, sagt Haki, ein Flüchtling aus Libyen, der in Deutschland Sicherheit und Freiheit finden wollte. Gemeinsam mit anderen Campbewohnern des Flüchtlingscamps lassen die aufgrund der angespannten Situation des Nächtens völlig übermüdeten Flüchtlinge die Geschehnisse des vorherigen Abends noch mal Revue passieren: Aus ihrer Sicht stach ein junger Vater, der mit seinem Kleinkind unterwegs war, ohne Grund auf einen Koch des Flüchtlingscamps ein, das seit August 2012 am Oranienplatz in Kreuzberg steht. »Erst sticht er zu, und dann ließ er das Baby zurück«, erzählen die Flüchtlinge aus Afrika fassungslos. Die Campbewohner räumen aber auch ein, dass die Messerattacke nicht die erste stressige Situation mit Anwohnern war. »Wir hatten schon vorher zwei Mal Probleme mit Leuten, die uns vorwarfen, dass wir sie angucken«, sagt Haki.

Für großen Unmut sorgte gestern unter Flüchtlingen und deren Unterstützern allerdings auch der große Polizeieinsatz mit 250 Beamten infolge der Messerattacke. »Die massiv zusammengezogene Polizei trat sofort äußerst aggressiv auf und bildeten eine Front gegen die aufgewühlten Campbewohner und Unterstützer«, hieß es in einer Erklärung der Bewohner des Flüchtlingscamp.
Vor Ort stellte sich die Situation auch deshalb als unübersichtlich dar, da sich nach der Messerattacke gegen 19.30 Uhr die Situation gegen 20.30 Uhr zunächst zu beruhigen schien. Für viele Beteiligte völlig unerwartet kam dann ein massiver Angriff durch die Polizei mit Pfefferspray auf das Camp, bei der mehrere brutale Festnahmen erfolgten.

Doch statt gegen eine sich zugleich sammelnde größere Gruppe aggressiver auftretender Männer mit offenbar türkischem Migrationshintergrund vorzugehen, die Campbewohner beleidigten und bedrohten, ging die Polizei zunächst erneut gegen die Bewohner und Unterstützer des Flüchtlingscamp vor. Erst nach weiteren teils körperlichen Auseinandersetzungen isolierte die Polizei die Männergruppe, zu der laut Polizei auch Angehörige des Messerangreifers gehörten, in einer Kneipe in der Dresdener Straße am Rande des Oranienplatzes.

»Bis in die Nacht hinein hat diese eine türkische Gruppe uns attackieren wollen. Unter ihnen waren auch Rassisten, die vor allem gegen die Afrikaner vorgehen wollten«, berichtet Turgay Ulu, der selber als Flüchtling auf dem Camp lebt. Ulu betont aber auch, dass nicht alle dieses Motiv gehabt hätten.
Gegenüber »nd« erklärte dagegen ein junger türkischer Migrant, sie seien gekommen, weil sie es sich nicht bieten lassen würden, wenn ein sechs Wochen altes Baby von den Flüchtlingen festgehalten werde. Bis spät in die Nacht versuchte die Polizei die beiden verschiedenen Gruppen zu trennen. Erst gegen fünf Uhr morgens zogen die letzten Polizisten vom Oranienplatz ab.

Wie weiter mit der komplizierten, angespannten Situation vor Ort umgegangen werden soll, war unterdessen gestern Mittag Thema einer Sitzung zwischen dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, der Polizei und Vertretern des Flüchtlingscamps. Ergebnisse der Unterredung waren zunächst nicht bekannt.
Für Dirk Stegemann, der die Flüchtlingen seit Beginn an unterstützt, ist die Polizei an dem chaotischen Verlauf der Auseinandersetzungen mitschuldig. »Es ist erbärmlich, dass in Berlin kein Polizist Englisch spricht, die Aussagen auf Deutsch verstehen die Flüchtlinge nicht.« Statt Festnahmen durchzuführen hätte sich die Situation einfach beruhigen lassen, meint Stegemann.

Die Polizei erklärte dagegen gestern in einer Mitteilung, sie sei von Personen mit Holzlatten und Flaschen angegriffen worden. Überdies sei einem Beamten ein Schlagstock entrissen worden. Der Einsatzleiter vor Ort wollte sich am Abend auf »nd«-Nachfrage nicht zu seinem aus dem Ruder gelaufenen Einsatz äußern.