nd-aktuell.de / 22.06.2013 / Kommentare / Seite 22

»Rostendes« Geld als Ausweg?

In der Krise feiern die Ideen von Silvio Gesell auch unter Linken fröhliche Urständ

Klaus Müller

Silvio Gesell war der Namhafteste unter den Dilettanten, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf das komplizierte Feld der Geldtheorie wagten und glaubten, den Kapitalismus von Krisen befreien zu können. Keynes bescheinigte ihm »Einfälle tiefer Einsicht.« Und meinte, »dass die Zukunft mehr vom Geiste Gesells als von jenem von Marx lernen wird.« Sowohl Gesell als auch Keynes waren überzeugt, dass die Geldzurückhaltung der Menschen das Grundübel sei. Beide verkannten damit eklatant die wahren Widersprüche kapitalistischer Produktion. Das sollte beachtet werden angesichts der Tatsache, dass die Linken seit Jahren dabei sind, Keynes für sich zu entdecken. Auch der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter war bereits zu Lebzeiten mit Recht skeptisch: »Ich bin kein Marxist. Dennoch erkenne ich zur Genüge die Größe von Marx an, um mich beleidigt zu fühlen, ihn zusammen mit Silvio Gesell auf die gleiche Ebene gestellt zu sehen.«

Produktion und Austausch stottern, wenn es im Umlauf an Geld mangelt. Krisen und Elend entstehen deshalb, weil die Leute Geld horten, um damit Zinsen zu erpressen. Gesell und seine Epigonen wollten das ändern. Die Geldscheine sollten altern wie die Waren, gehortetes Geld demnach fortwährend an Wert verlieren. Eine »Geldumlauf-Sicherheitsgebühr«, das heißt eine Abgabe auf gehortetes Geld, würde dies ermöglichen. Wer zu Beginn des Jahres 1000 Euro spart, hätte am Jahresende nur noch 950 oder 900 Euro übrig. Würde Geld wie jede andere Ware mit der Zeit »vergammeln«, erlösche das Interesse, es aufzubewahren. Um negative Zinsen zu vermeiden, würde das Geld gleich wieder ausgegeben.

Tauschringe und die Regionalgeld-Idee beruhen auf diesem Konzept. Sie haben sich unter außergewöhnlichen Bedingungen wie Wirtschaftskrisen, Kriegen, Inflation und ähnlichem als Hilfsmittel bewährt, wenn Geldmangel herrschte oder die Leute mit dem »richtigen« Geld nicht viel anfangen konnten. Die Scheine sind damit eine Art des Notgeldes. Die Erfolge der regionalen Ersatzwährung sind jedoch begrenzt. Den größeren Teil des Einkommens geben die Leute immer dort aus, wo sie leben, in welcher Währung, ob in Euro oder bunter Heimatwährung, ist dabei einerlei. Heimische Waren werden bevorzugt, wenn sie besser sind und nicht, wenn sie mit Spezialgeld bezahlt werden können.

Außerdem bleibt nie alles Geld dort, wo es ausgegeben wird. Händler und Produzenten beziehen oft einen Teil ihrer Güter, Arbeitsmittel und Rohstoffe von anderswo. Auch wenn die Einwohner Kühlschränke, Fernseher und Smartphones beim Händler ihres Ortes kaufen und mit Regionalgeld zahlen, hergestellt werden die Produkte dennoch fernab des kommunalen Marktes. Zweitwährungen änderten nichts an der überregionalen und internationalen Arbeitsteilung, schreibt auch der Journalist Peter Bierl. Vollständige Autarkie von Dörfern, Städten und Regionen ist keineswegs wünschenswert. Sie würde den Lebensstandard auf das Niveau des Mittelalters zurückwerfen. Auf Dauer schaden Abschottung und Selbstversorgung der wirtschaftlichen Entwicklung. Unvernünftig aber auch, Waren, die regional hergestellt werden können, aus Tausenden Kilometer entfernten Orten zu beziehen.

Außerdem ist die Nachfrage nach Waren keineswegs nur eine Frage des Vorhandenseins von Geld. Zudem ist der Glaube ein wenig blauäugig, das schrullige Geld, das keiner in der Schatztruhe haben will, würde unentwegt Geschäfte ankurbeln und die Wirtschaft unter Hochdruck halten. In welchem Umfang Nachfrage nach Gütern existiert, hängt auch ab vom Lebensniveau, von den Ansprüchen der Menschen, den Sättigungs- und Innovationsgraden der Erzeugnisse.

Geld »fließen« zu lassen, heißt, ihm zu ermöglichen, Güter nachzufragen. Dafür bedarf es mehr Anstrengungen als nur das Horten von Geld unattraktiv zu machen. Weshalb sollten Investitionsgüter beschafft werden, wenn alles gegen die Investition spricht? Weshalb sollten Konsumgüter nachgefragt werden, wenn man diese nicht braucht? Das wäre organisierte Sinnlosigkeit, abgesehen davon, dass es viele gute Gründe gibt, zu sparen. In gesättigten Ökonomien müsste ein Wirtschaftswachstum, erleichtert durch »rostende« Banknoten, die sinnlose Vergeudung der Ressourcen weiter erhöhen. Dabei hat der Mythos Wachstum längst versagt.

Die von einigen geforderte Rückkehr zur D-Mark wäre nichts anderes als die Rückkehr zum »Regionalgeld« auf höherer Ebene. Die Folge wären eine Aufwertung der DM und Einbrüche im Exportsektor mit den bekannten negativen Gesamtwirkungen. Ebenso würde die Wiedereinführung der Drachme die Verschuldungsprobleme im kriselnden Griechenland durch einen enormen Abwertungsdruck verschärfen.

Geld ist ein Mittel des Tausches und der Wertaufbewahrung. Beide Funktionen gehören zusammen. Gesell dagegen glaubt, Geld werde zweckentfremdet gebraucht, wenn es zurückgehalten wird. Überflüssiges Geld im Umlauf fließt in die Depots. Von dort strömt es zurück, wenn es in der Zirkulation benötigt wird. Die Wertaufbewahrungsfunktion gleicht Schwankungen im Geldbedarf aus. Sie »puffert« die Tauschmittelfunktion, ist kein Gegensatz zu ihr, sondern ihre notwendige Ergänzung. Die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes ermöglicht es, den Tausch zeitlich zu dehnen. Sie macht den Geldumlauf flexibler. Geld zu horten ist kein Missbrauch, sondern ein notwendiges Element der Geldwirtschaft.

Für die Anhänger Gesells ist der Zins die Ursache einer von Krisen geschwängerten, ungerechten Welt. Er zwinge zum unsinnigen Wachstum, um die steigende Zinslast zu bezahlen. So würden Ressourcen vernichtet, die Umwelt zerstört und ökologische Katastrophen verursacht. Der Zins erhöhe die Kosten der Produktion und damit die Preise. Er bewirke eine riesige Umverteilung zugunsten der Reichen. Wie eine Pumpe sauge er tagtäglich Unsummen von Geld von der Mehrheit und leite sie zur Minderheit, von unten nach oben. Der Zins untergrabe die Bereitschaft zu investieren, sei schädlich für die Produktion und erhöhe die Arbeitslosigkeit. Er verschärfe die Konflikte zwischen den Menschen, vertiefe die Krise des Staatshaushalts und die Schuldenkrise der dritten Welt; weite die Kluft zwischen armen und reichen Ländern. Am Ende löst er demnach gar Kriege aus. Zins - das Übel aller Übel. Man müsse die Zinsknechtschaft brechen, so Gesells Standpunkt. Eine populäre These, die bis in Kreise der Grünen, bei Attac und in Teilen der LINKEN Anklang findet.

Je tiefer die Krise, je größer die Unzufriedenheit über die Ungerechtigkeiten, um so stärker ist das Bemühen, Ursachen dafür zu finden. Und da die Umverteilung von unten nach oben auch über Kapital- und Zinsflüsse stattfindet, ist es verständlich, dass sich die Kritik gegen den Zins richtet. Nur ist das eine oberflächliche Kritik; eine Kritik an den Symptomen. Letzter Krisengrund ist nicht der Zins, sondern die ungleiche Verteilung des Eigentums, aus der die Ungleichheit der Einkommen und des Vermögens resultiert. Jeder Ärger sucht sich ein Ventil. Frühere Herrschaften hatten den Juden, das »raffende« Kapital, dem sie die Schuld für ihnen angetanes Unrecht zuwiesen. Heute haben wir den Zins oder den Euro. Aber es ist falsch, zu glauben, dass mit dem Wegfall des Zinses der Wachstumsdruck entfiele. Der Profit bliebe auch in einer denkbaren zinslosen Wirtschaft das Maß aller Dinge, der Wachstumsmotor Nummer eins. Nicht der Zins als ein Teil des Profits sondern der Profit selbst ist das Problem.

Es ist abwegig, Wirtschafts- und Umweltkrisen, Ungleichgewichte in der Verteilung von Einkommen und Vermögen, Schuldenkrisen und andere soziale Spannungen allein auf das Zinssystem zurückzuführen. Eine komplexe ökonomische Welt so sehr vereinfacht zu sehen, ist ein Irrweg, der von deren inneren Gesetzmäßigkeiten wegführt. Die Gesellianer, von der etablierten Wissenschaft meist ignoriert, erfahren außerhalb davon derzeit Zuspruch. Grund sind die aktuellen Krisen. So war es auch während der großen Depression der 1930er. In der Endkonsequenz aber lenken sie damit nur ab von den wesentlichen Problemen, nähren falsche Vorstellungen über Geld und Kapitalismus und behindern Aufklärung und Emanzipation.

Eine längere Version dieses Beitrages erschien in der aktuellen Ausgabe der »Z. - Zeitschrift marxistische Erneuerung« (Nr. 94).