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Volkslied als Kampflied

»Cabaret« im Tipi

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Warum hält sich das Musical »Cabaret« weltweit über die Jahrzehnte, wie kommt es, dass sich das große Zelt am Kanzleramt allabendlich bis hoch zu den Rängen füllt? Und das, obwohl schon Jahre zuvor eine »Cabaret«-Premiere in der Bar Jeder Vernunft umjubelt war. Es hat Gründe, dass der Zulauf nicht abebbt: gefällige Musik, Songs, die ins Ohr gehen - »willkommen, bienvenue, welcome«, »bye,bye, mein lieber Herr«, life is a cabaret.

Vor allem aber rückt dieses Spiel um Liebe, Leidenschaft und Verzweiflung Historisches in die Gegenwart, beschwört in den Goldenen Zwanzigern den kommenden Faschismus, zeigt, wie sich schon im Gold das Hakenkreuz abzeichnet. Politisches Gewitter naht, die Ausgelassenheit der Ausgelassenen steigert sich ins Hysterische, ein Volkslied verkommt zum Kampflied, zu dessen martialischen Klängen Stiefel stampfen und Arme zum Hitlergruß hochgerissen werden. Die Zimmerwirtin Frl. Schneider (im Stück Regina Lemnitz) wagt es nicht länger, sich zu dem Obsthändler Schultz (Peter Kock) zu bekennen, weil sich herausgestellt hat, dass der Jude ist. Eine schöne Liebe stirbt an der braunen Pest. Ein Musical? In der Tat! Aber eines, das auf einem guten Roman basiert, auf Christopher Isherwoods immer wieder aktuellem »Goodbye to Berlin«.

Allein der Umsetzung von Buch zu Musical wegen, aber auch wegen der gekonnten Regie des Vincent Paterson lohnt sich die Vorstellung, in der Lucy Scherer singend und tanzend die leichtlebige Sally Bowles gibt, die sich in den jungen Engländer Clifford Bradshaw verliebt, einen Schriftsteller, wie Christopher Isherwood es war - und wirklich, Patrick Adrian Stamme nähert sich dem Isherwood-Vorbild vortrefflich, zeigt sich höflich und forsch, zurückhaltend, aber auch mutig, wenn es darum geht, gegen die Nazis Haltung zu beweisen. Und was Fräulein Kost mit dem wirren Haar angeht, dieses zügellose Freudenmädchen, das bei Frl. Schneider logiert, Anja Karminski gibt sie prächtig.

Man weiß: Alle Cabarets brauchen Tänzerinnen, also hat auch der KitKatKlub in »Cabaret« seine Frenchie, Lulu, Mausi und Helga (allesamt flott dargeboten von dem Dance Captain Mogens Eggemann und den singenden und tanzenden Damen Maika Wüscher, Cornelia Waibel und Juliane Maria Wolff), und natürlich auch einen Conferencier! Und nicht nur irgend einen Conferencier, sondern einen, der die Handlung zusammenhält, von Beginn an mitzureißen versteht, stimmlich stark ist, sich bewegen und tanzen kann - und sprechende Hände hat. Was dieser Oliver Urbanski allein mit den Händen zu gestalten versteht! Ein wunderbarer Mime, der noch bis zum 1. September zu erleben sein wird, wenn das Musical sich von Berlin verabschiedet.

Applaus, Applaus!

Kartentelefon (030) 390 665 50

karten@tipi-am-kanzleramt.de

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