nd-aktuell.de / 10.07.2013 / Politik / Seite 15

»Wir haben keine Angst mehr«

Aktivistin Vera Akulowa über die wachsende feministische Bewegung in Russland

Vera Akulowa ist Mitglied der Moskauer Feministischen Gruppe und promoviert über die Transformationen der feministischen Bewegung in Russland seit den 1990er Jahren. Am Montag hielt sie einen Vortrag in der Humboldt Universität Berlin. Mit Akulowa sprach Ulrike Gramann über den »unsichtbar wachsenden Widerstand« der feministischen Bewegung in Russland.

nd: Das Wort Feminismus gilt in Russland als »beängstigend und unverständlich«. Warum?
Akulowa: Angst macht vor allem das Klischee von den sehr ärgerlichen, unglücklichen Feministinnen, die einsam sind und alle Männer hassen. Was Feminismus wirklich bedeutet, ist den meisten Menschen unbekannt.

Was bedeutet das viel zitierte Wort von der Renaissance des Patriarchats in Russland?
Das heißt, dass die Frauenemanzipation in den 1990er Jahren vollkommen verschwunden ist. Die Frauen sind seitdem angeblich von der Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt befreit. Sie sollen zu Hause bleiben, sexuell attraktiv für den Mann sein, romantisch lieben, eine glückliche Ehe führen. Auch in der Sowjetunion waren die Geschlechterrollen konservativ, aber Sexobjekte waren Frauen damals nicht.

Worum geht es russischen Feministinnen?
Themen sind Diskriminierung am Arbeitsplatz, reproduktive Rechte, das Recht auf Abtreibung, die sogenannte häusliche Gewalt. Es gibt alle Arten von Diskriminierung: weniger Aufstiegsmöglichkeiten, schlechtere Bezahlung für »frauenspezifische Berufe«, Diskriminierung im Hinblick auf reproduktive Rechte. Frauen verbergen ihre Schwangerschaft so lange wie möglich, um nicht entlassen zu werden, arbeiten oft ohne Vertrag, werden schlechter oder gar nicht bezahlt.

Was steht im Hintergrund der extrem konservativen staatlichen Geschlechterpolitik?
Der Staat befürchtet, die Kontrolle über die Gesellschaft zu verlieren. Deshalb will er unsere Körper kontrollieren, mit einer homophoben und Anti-Abtreibungs-Gesetzgebung. Viele Menschen denken, diese Gesetze sollen von anderen politischen Inhalten ablenken. Ich halte sie für zentral.

Wie organisieren Sie sich?
Innerhalb der feministischen Community wird viel online kommuniziert, national und international. Wie viele Gruppen es gibt, ist schwer zu sagen, einige Dutzend vielleicht. Es gibt Selbsterfahrungsgruppen, Online-Aktivismus, Graswurzelarbeit. Wir müssen auch die »unsichtbaren« Dinge tun, mit Frauen sprechen vor allem, von ihren Erfahrungen lernen. Mit Nichtregierungsorganisationen, die seit den 1990er Jahren aktiv sind, wie Beratungsstellen für Frauen in Krisensituationen, beschränkt sich die Zusammenarbeit eher darauf, dass wir Flugblätter hinbringen.

Gibt es Frauen, die mit Feministinnen sympathisieren, obwohl sie selbst nicht feministisch sind?
Wenige. Die meisten sagen: »Wir brauchen keinen Feminismus, wir werden nicht unterdrückt.« Aber das ändert sich gerade, weil die offizielle Geschlechterpolitik immer repressiver wird. Mehr Druck erzeugt mehr soziale Unterstützung. Über die homophoben Gesetze wurde viel diskutiert, und manche Menschen sagen nun: »Wenn das so ist, sind wir alle homosexuell!« Allerdings ist die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor homophob.

Welche Konsequenzen haben Feministinnen und Genderaktivist_innen zu befürchten?
Das betrifft vor allem LGBT-Aktivist_innen (Abk. für Englisch: Lesbian, Gay, Bisexual und Trans, Anm. d. Red.). Ihre Aktivitäten und Demonstrationen sind oft nur halb legal oder gänzlich illegal. Sie werden bei Protesten systematisch zusammengeschlagen. In russischen Städten wurden im vergangenen Jahr sieben Menschen ermordet, weil sie homosexuell waren oder dafür gehalten wurden. Die Repression führt dazu, dass manche LGBT-Aktivist_innen Selbstzensur üben und ihre Websites schließen.

Befürchtest du etwas für dich selbst?
Nein. Wir wenden uns vor allem an die Gesellschaft, nicht an den Staat. Wir haben keine Angst mehr, Feministinnen zu sein. In den 1990er Jahren mussten Frauen ständig betonen, wie friedlich die feministische Bewegung ist. Boris Jelzin schuf damals eine Atmosphäre, in der jede Art von Protest mit Revolte und Revolution assoziiert wurde. »Wenn du politische Überzeugungen hast, wirst du erschossen.« Das ist vorbei.

Wer sind eure politischen Verbündeten?
Andere politische Aktivist_innen, vor allem Linke und die Jabloko-Partei, die feministische Inhalte in ihren Programmen hat. Gerade Marxist_innen halten aber Geschlechterthemen für »ein bisschen weniger wichtig«. Wir arbeiten trotzdem zusammen, zum Beispiel in der Kampagne für das Recht auf Abtreibung. Gruppen wie das Komitee der Soldatenmütter zähle ich nicht zur Frauenbewegung, weil sie in ihrer traditionellen Rolle bleiben und für die Rechte anderer kämpfen, auch wenn das ihre Söhne sind. Die »Frauenbewegung« kämpft gegen repressive Geschlechterpolitik und sexistische Unterdrückung.