nd-aktuell.de / 11.07.2013 / Politik / Seite 6

»Unübersehbare katastrophale Folgen«

Ex-Atomaufseher warnt: Atomkraftwerke sind bei Flugzeugabstürzen genauso verwundbar wie die Castor-Hallen

Reimar Paul
Laut einem Gutachten sind die Risiken des Absturzes eines großen Flugzeugs bei den deutschen AKW nicht berücksichtigt worden.

Mitte Juni kassierte das Oberverwaltungsgericht Schleswig die Betriebserlaubnis für das Atommüll-Zwischenlager Brunsbüttel. Bei der Genehmigung seien die Risiken eines Absturzes von großen Flugzeugen nicht ausreichend berücksichtigt worden. Nun stellt ein Gutachten im Auftrag der Anti-Atom-Organisation »Ausgestrahlt« fest: Kein deutsches Atomkraftwerk ist gegen den Absturz auch nur mittelgroßer Flieger geschützt. Verfasst hat die Studie der pensionierte Ministerialdirigent Dieter Majer. Der studierte Ingenieur war der ranghöchste Technik-Experte der Atomaufsicht des Bundes.

Majer zufolge sind - durch Unfälle verursachte oder als Terrorangriff gezielt herbeigeführte - Flugzeugabstürze bei der Errichtung der AKW nicht umfassend berücksichtigt worden. Stattdessen hätten die Genehmigungsbehörden nur die zur jeweiligen Bauzeit genutzten Militärmaschinen betrachtet. »Bei den heute noch betriebenen Atomkraftwerken ging es konkret nur darum, ob sie die Stoßbelastung durch eine abstürzende Militärmaschine vom Typ Phantom mit 20 t Gewicht und einer Auftreffgeschwindigkeit von 774 km/h überstehen würden«. Zivilflugzeuge mit ihrer sehr viel größeren Masse und Treibstoffmenge seien unbeachtet geblieben.

Der Aufprall eines Flugzeugs habe in jedem Fall »unübersehbare katastrophale Folgen«, schreibt Majer und entwickelt verschiedene Szenarien. So könnten sich Triebwerkswellen mit ihrer hohen Bewegungsenergie »wie ein Speer« in den Reaktorsicherheitsbehälter aus Beton bohren und so die wichtigste Barriere gegen die Ausbreitung radioaktiver Stoffen zerstören. Möglich seien auch Beschädigungen des Reaktordruckbehälters, der Hauptkühlmittelleitung und von elektronischen Einrichtungen. Die Folgen wären Kühlmittelverluste, eine Freilegung von Brennelementen und eine Kernschmelze - mithin der Super-GAU.

Die Möglichkeiten, die Sicherheit der AKW gegen Flugzeugabstürze durch Nachrüstungen zu erhöhen, hält Majer für »außerordentlich begrenzt«. Bauliche Maßnahmen schieden schon deshalb aus, weil sie angesichts einer langen Planungs- und Genehmigungszeit innerhalb der Restlaufzeiten gar nicht mehr realisiert werden könnten. Zur Vermeidung der »nicht hinnehmbaren« Risiken bleibe deshalb nur die kurzfristige Abschaltung der Kraftwerke. Das findet auch »Ausgestrahlt«-Sprecher Jochen Stay. Die Regierung müsse die Betreiber zwingen, ihre Meiler abzuschalten, solange nicht nachgewiesen sei, dass sie auch den Absturz eines großen Flugzeugs unbeschadet überstehen könnten. Das Bundesumweltministerium erklärte auf nd-Anfrage, in seiner aktiven Dienstzeit habe Majer »nicht die Auffassung dokumentiert, dass mit Blick auf die Thematik Flugzeugabsturz‚ zur Vermeidung der nicht hinnehmbaren Risiken (…) die kurzfristige Abschaltung aller Atomkraftwerke in Deutschland erforderlich sei.«