Sprechen, Sitzen, Stehen, Saufen

Auf der Kreuzberger Admiralbrücke feiern abends Touristen und Trommler. Macht das Berlin zur Metropole?

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.

An der Kreuzberger Admiralbrücke haben es sich seit einigen Jahren Menschen zur Gewohnheit gemacht, gemeinschaftlich herumzustehen, zu trinken und zu schwatzen. Sobald der erste Sonnenstrahl des Jahres auf die Brücke fällt, füllt sie sich mit Leuten. Die »Kreuzbergs größtes Open-Air-Wohnzimmer« (»taz«) erst wieder verlassen, wenn ihnen im Oktober die Kälte in die Glieder kriecht. Denn die Aussicht auf den Landwehrkanal und die renovierten Altbauten ist gut, das Flaschenbier vom Kiosk ist billig und man lernt schnell Leute kennen, wenn man nicht gerade auf den Mund gefallen ist.

Eine Art florierender Anmach- und Abschleppschuppen unter freiem Himmel hat sich auf diese Weise entwickelt. Seither gilt die Brücke, die in vielen Reiseführern zu finden ist, als »Touristenmagnet« und billige Partyzone für Neo-Hippies, Polo-Shirt-Träger, Dauertrommler mit zu viel Tagesfreizeit und andere Langweiler. Man weiß zwar nicht warum, aber der junge, erlebnishungrige Berlin-Tourist kann als recht anspruchslos gelten: Ein bisschen die Nacht zum Tag machen, ein bisschen Clubsafari, ein bisschen Armuts-Sightseeing in Neukölln. Und vorher auf die Brücke.

Die Anwohner, die noch nicht begriffen haben, dass der Berliner Größen- und Hauptstadtwahn dazu geführt hat, dass ihr Viertel nicht mehr das putzige, linke Biedermännerreservat im Schatten der Mauer ist, das es einmal war, sondern der Ballermann Berlins, beschweren sich seitdem über den allabendlichen Rummel und die Dauerbeschallung vor ihrer Haustür. Was man nicht alles bereits versucht hat anzuregen, um die Menschenmenge zu zerstreuen: bauliche Veränderungen, die das Herumsitzen erschweren, die Abschaffung der Verkehrsberuhigung, die Wiedereinführung einer Sperrstunde oder die Gründung einer Art Bürgerwehr.

Doch die beharrlich Herumstehenden wollen nicht weichen. Allabendlich muss nach 21 Uhr die Polizei anrücken, woraufhin etwas geschieht, was Harald Martenstein neulich in der Hauptstadtzeitung »Tagesspiegel« ein »Berliner Sommerwunder« nannte: »Die Leute stehen auf, packen ihr Zeug und verziehen sich.« Die Polizei erteilt Platzverweise. Ein Wunder. Es gebe »inzwischen drei Cafés« an diesem »Schauplatz nächtlicher Partys«, schwärmte Martenstein weiter. »Wenn es im nächsten Sommer fünf sind, würde das niemanden wundern. Es geht fast schon ein bisschen in Richtung Rialtobrücke, was die Menschendichte betrifft«, meldet er stolz. Er scheint dem weit verbreiteten Irrglauben anzuhängen, dass es in Berlin umso hauptstädtischer zugeht, je mehr Volk sich auf einem Fleck versammelt und je mehr Gaststätten und Fressbuden eröffnen, um dort die Nahrungsmittelversorgung für diese Menschenmenge sicherzustellen.

Eine Metropole wäre demzufolge eine Art an einen festen Ort gebundenes, permanentes Volksfest, was selbstverständlich nicht zutrifft. Metropolen sind Orte, wo die Krämerseele und der Spießer nicht viel zu melden haben. Die Stadt Berlin, in der Takt, Geist und Höflichkeit traditionell unterrepräsentiert sind, gehört nicht zu diesen Orten. Auch dann nicht, wenn, wie jedes Jahr im Sommer, eine Brücke der Stadt von zahlreichen feierwütigen Möchtegern- und Schmalspurhipstern heimgesucht wird. »Sie sprechen viele Sprachen, machen Musik, trinken.« (Martenstein) Aus dem Martensteinschen übersetzt heißt das wohl so viel wie: Sie sprechen viel, machen schlechte Musik, betrinken sich.

Später am Abend geht das Sommerwunder in den umliegenden Lokalen weiter, wo sich regelrechte Kulturexzesse abspielen: »Dort sitzen sie dann manchmal auf der Straße, eine Person spielt Gitarre, die anderen Personen zeigen Freizeitverhalten.« Natürlich gibt es gegen ein solches Treiben nicht das geringste einzuwenden, im Gegenteil. Weit beunruhigender wäre es, wenn die Leute sich dort schweigend zur Askese versammelten. Doch muss man bei allem Geschehen, das sich in Berlin abspielt und in dessen Verlauf Personen in der Öffentlichkeit »Freizeitverhalten zeigen«, stets »Hauptstadt! Hauptstadt!« brüllen und mit stolzgeschwellter Brust das von Lärmenden akustisch eroberte Gelände zu einem Kulturstandortfaktor umlügen?

Geradezu trunken vom zu erwartenden »positiven Deutschlandbild«, das er delirierend und Ausrufungszeichen verteilend heraufbeschwört, steigert sich Martenstein in einen wahren Rausch der Sinne hinein. In den auf dem Straßenpflaster festgetretenen Abfällen vermag er nur noch die Kronkorken zu entdecken, in denen »sich die letzten Sonnenstrahlen spiegeln«, und in den Brückenhockern, Schwätzern und Spießern von morgen meint Martenstein »internationale Paare« zu erkennen, »von denen jedes zweite an Julie Delpy und Ethan Hawke im Film ›Before Sunrise‹ erinnert«.

Ja, tatsächlich quatschen viele der sich Versammelnden erbarmungslos denselben pseudotiefsinnigen Schmarren aufeinander ein wie die beiden sich Verliebenden aus dem genannten Kitschfilm. »Wahrscheinlich trifft sich auf der Admiralbrücke die europäische Elite von morgen.« (Martenstein) Genau. Und auf den Sonntagskulturseiten des »Tagesspiegel« trifft sich der Lokalpatriot mit dem Schmonzettenschreiber. Selbst Martenstein, dessen herausragendes Talent, die Vorurteile des bürgerlichen Mainstreams zu erspüren und sie ihm als Martenstein-Text zur Lektüre zurückzugeben, unbestritten sein dürfte, wird es auf diese Weise nicht gelingen, aus Berlin, der Hauptstadt des Hundekots, eine Art perlmuttfarben im Sonnenuntergang schimmerndes Ersatz-Venedig zu machen bzw. dieses herbeizuschreiben, selbst wenn er noch so oft die vielen »jungen Menschen« beschwört, die Abend für Abend auf der Admirialto-Brücke »den Sonnenuntergang, die Großstadtromantik und das Leben als solches feiern«.

Tatsächlich ist es so, dass heute im Zentrum des in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu einer Art Volksfest- und Saufmeile mutierten einstigen »Multikulti- und Szenebezirks« Kreuzberg die eine Spießerfraktion der anderen gegenübersteht: auf der einen Seite der grünliberale, protestantische Anwohner, der sich nach seinem beschaulichen Klein-Kreuzberg zurücksehnt, jede akustische Spur eines urbanen Nachtlebens als »Lärm« denunziert und tilgen will – eine zeitgenössische Ausprägung des Typus Deutscher Hausmeister – und auf der anderen Seite eine Horde von Dauertrommlern und gelangweilten Studenten, die das gemeinschaftliche Herumsitzen auf einer Brücke sowie das Schwatzen bei gleichzeitigem Leeren von Bierflaschen für »spontane Feierkultur«, für ein »Kulturevent« oder gar für die Manifestation eines metropolitanen Lebensstils ausgeben. Unsympathisch sind beide.

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