Erstaunliche Welten

»die horen« widmen ihren 250. Band der Vielfalt an Literaturzeitschriften

  • Ruth Renée Reif
  • Lesedauer: 3 Min.

Als Friedrich Schiller 1795 seine »Horen« ins Leben rief, waren ihnen gerademal zwei Lebensjahre vergönnt. Dann mussten sie mangels Leserinteresse ihr Erscheinen einstellen. Den »horen«, die der Schriftsteller Kurt Morawietz im Schillerjahr 1955 mit einer Startauflage von zehn Exemplaren - maschinengeschrieben mit neun Durchschlägen - herausbrachte, war mehr Glück beschieden. Mehrfach ausgezeichnet, gehören sie zu den ältesten kontinuierlich erscheinenden Literaturzeitschriften Deutschlands.

Autoren der ersten Jahre waren Günter Eich, Heinz Piontek und Arno Schmidt. Günter Grass war mit Gedichten vertreten und Nelly Sachs schickte ihre Gedichtsammlung »Und niemand weiß weiter«. In den siebziger Jahren begann Morawietz, Themenbände zu erarbeiten. Es erschienen Bände über Lateinamerika, China, Persien, Indien, Südafrika sowie zahlreiche europäische Länder. 1994 starb Morawietz, und der Schriftsteller Johann P. Tammen übernahm die Herausgeberschaft. Neben der Entdeckung junger Autoren war es ein wichtiges Anliegen der »horen«, Schriftsteller dem Vergessen zu entreißen. Erinnert wurde an Namen wie Arno Holz, der mit Erstveröffentlichungen aus dem Nachlass vertreten war, und vor allem Albert Vigoleis Thelen, den »die horen« mit immer neuen Nachlass-Funden zu ihrem »Hausgott« erkoren.

Seit 2012 ist der Literaturwissenschaftler Jürgen Krätzer der Herausgeber. Unter seiner Ägide feiern »die horen« ihre 250. Ausgabe. Das Jubiläum nehmen Krätzer und sein Kollege Sascha Feuchert zum Anlass, »das Medium selbst zu würdigen« und »auf die Literaturzeitschrift (in all ihren Wortbestandteilen) zu schauen«. Unter dem irritierenden Titel »Pressköter und Tintenstrolche!«, Beschimpfungen, mit denen Karl Kraus in seiner »Fackel« die Journalisten der »Neuen Freien Presse« bedachte, stellen sie in Interviews, Reminiszenzen und Würdigungen Literaturzeitschriften vor. Das Spektrum reicht von der »Neuen Rundschau«, die, 1890 von Samuel Fischer gegründet, die älteste noch existierende literarische Zeitschrift Deutschlands ist, über Klaus Wagenbachs »Freibeuter« und Michael Krügers »Akzente« bis zur »lyrikline«, der Anlaufstelle für zeitgenössische Poesie im Internet. Aber auch Schlaglichter auf andere Länder wie Island, Polen, China oder Russland zur Zeit der Avantgarde bietet der Band.

Zu bedauern ist, dass der Osten Deutschlands vergleichsweise wenig Berücksichtigung findet. Neben »SINN UND FORM«, dem von der Akademie der Künste Berlin herausgegebenen »Mutterschiff unter den deutschen Literaturzeitschriften«, hätte man auch der 1952 vom Deutschen Schriftstellerverband gegründeten und von Willi Bredel und F. C. Weiskopf herausgegebenen Zeitschrift »neue deutsche literatur« ein Porträt widmen können.

Willi Bredel hatte mit Brecht und Feuchtwanger auch der Redaktion der deutschsprachigen literarischen Exilzeitschrift »Das Wort« angehört, die von 1936 bis 1939 in Moskau erschien und unter deren Mitarbeitern sich Johannes R. Becher, Alfred Döblin, Stefan Heym, Egon Erwin Kisch, Heinrich Mann, Anna Seghers und Arnold Zweig befanden. Sie hätte ebenfalls einen Beitrag verdient. Zu enorm aber scheint die Fülle gewesen zu sein, der sich die beiden Herausgeber gegenübersahen. 250 deutschsprachige Literaturzeitschriften hätten sie bei ihren Recherchen zusammengetragen. Auch seien kaum je zuvor so viele Neugründungen erfolgt. Und für ihre Lektüre gilt, was der MDR-Literaturredakteur Michael Hametner im Gespräch mit Jörn Dege von »Edit«, Juan Guse von »BELLA triste« und Sebastian Kleinschmidt von »SINN UND FORM« feststellt, dass er »in literarische Welten hineingezogen werde, die ganz erstaunlich sind«.

die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. 58. Jahrgang, Ausgabe 250: »Pressköter und Tintenstrolche!« LiteraturZeitSchriften, zusammengestellt von Sascha Feuchert und Jürgen Krätzer. Wallstein Verlag, 320 S., 16,50 €.

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