Die Nadel im Heuhaufen

Wieder eine eigene Wohnung zu finden, ist für Obdachlose praktisch unmöglich

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.

»Schöne helle Einzimmerwohnung mit großer Wohnküche - gleich am Hermannplatz«, so preist der Makler das Objekt in der Neuköllner Weisestraße, direkt an der Ecke Flughafenstraße an. Die 34 Quadratmeter sind für 399 Euro kalt zu haben. Und die sogenannte Wohnküche ist das Zimmer mit einer Küchenzeile. Trotzdem besichtigt Herr B. die mäßig attraktive Wohnung, in der einzig der Mietpreis luxuriös ist. Denn B. ist wohnungslos.

»Das Amt hatte meine Miete nicht bezahlt, als ich in Haft saß«, berichtet er. 1200 Euro Mietschulden liefen auf, es kam zur Zwangsräumung. Das war vor drei Jahren. Seitdem bewerbe er sich um durchschnittlich zwölf Wohnungen pro Monat. »Die meisten Absagen kommen schon am Telefon«, sagt er. Die heutige Wohnung ist eigentlich viel zu teuer für eine Kostenübernahme durch das Amt, aber einen Versuch ist es trotzdem wert, um endlich aus seinem jetzigen Quartier, einem Obdachlosenheim, herauszukommen.

»In Neukölln lebt man am Puls der Hauptstadt«, heißt es euphorisch im Immobilienangebot. Karsten Krull vom Arbeitskreis Wohnungsnot, einem Zusammenschluss von rund 70 Einrichtungen öffentlicher und freier Träger der Wohnungslosenhilfe in Berlin, muss das leider bestätigen. Eine Wohnung zu behalten oder zu finden, werde immer schwerer. »Wir sind in der perversen Situation, Leute in die Wohnungslosigkeit entlassen zu müssen.«

396 Euro Warmmiete ist die Obergrenze bei der Kostenübernahme für einen Hartz-IV-Mieter. »Das Problem bei der Wohnaufwendungenverordnung ist, dass die Zahlen vollkommen veraltet sind«, berichtet Krull. Theoretisch könnten bei aktueller oder drohender Wohnungslosigkeit die Sätze um zehn Prozent überschritten werden, praktisch sei das nach Krulls Erfahrungen jedoch unmöglich. »Viele Leute sind dazu gezwungen, in die Randgebiete zu ziehen, obwohl sie 20 oder 30 Jahre hier wohnen oder die Kinder hier zur Schule gehen«, berichtet Philipp Wolffram von Neue Wege e. V., einem Neuköllner Träger der Wohnungslosenhilfe. »Selbst hier in der Weisestraße, wo vor zehn Jahren niemand wohnen wollte, sind die Mieten von den Amtssätzen nicht mehr zu bezahlen«, sagt Krull.

323 000 den Sätzen angemessene Wohnungen für Ein-Personen-Haushalte gibt es berlinweit, dem stehen 197 000 Arbeitslosengeld-II-Empfänger dieser Gruppe gegenüber. Das klingt zunächst gut, jedoch sind genauso Rentner und Geringverdiener auf diesen Wohnraum angewiesen, was den bedürftigen Personenkreis um mehrere 100 000 erhöht.

Und es sind nicht nur die Mieten das Problem. »Den Menschen werden falsche Informationen gegeben. Eine Beratung findet nicht statt. Und wenn die Nadel im Heuhaufen, sprich eine Wohnung gefunden wurde, dauert die Bewilligung so lange, dass sie wieder weg ist«, nennt Philipp Wolffram nur einige der Probleme. Die fehlende Übernahme alter Mietschulden durch die Ämter ist ein weiterer Punkt, der ein Dach über dem Kopf in weite Ferne rücken lässt. »Während die Übernahme in Mitte in rund 80 Prozent der Fälle gewährt wird, bekommen sie in Neukölln nur 20 Prozent der Klienten«, sagt Wolffram.

Auch Stefan Fischer hat seine Wohnung verloren. »Weil schlicht eine Krankenkassenbescheinigung fehlte, hat das Amt die Miete nicht bezahlt. Ich war sieben Mal beim Jobcenter, damit die überweisen«, sagt er. Zunächst dachte er, die armen Leute dort seien überfordert, doch inzwischen vermutet er System dahinter. »Erst seitdem ich mit einem Anwalt zusammenarbeite, lichtet sich das etwas«, berichtet der Pianist.

Der Arbeitskreis Wohnungslosigkeit fordert dringend Aktivität von Senatsseite. Vor allem müsse sich die Wohnaufwendungenverordnung an den tatsächlichen Mieten orientieren.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal