nd-aktuell.de / 15.07.2013 / Politik / Seite 8

Mehrheitsbeschluss zur Wahrheitsfindung

Polen gedachte der Opfer von Massakern in Wolhynien vor 70 Jahren

Julian Bartosz, Wroclaw
Ein in Europa verkanntes, von westlichen Historikern gemiedenes Thema beherrschte zum Wochenende Polens Politik: die 1943 bis 1945 in Wolhynien und Ostgalizien von ukrainischen Nationalisten an polnischen Landsleuten verübten Verbrechen.

Am 11. Juli jährte sich der Tag, an dem ukrainische Nationalisten vor 70 Jahren 99 von Polen bewohnte Dörfer angriffen, in Brand setzten und die gesamte Bevölkerung niedermetzelten. Es war dies der massive Beginn einer von der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) eingeleiteten Großoperation, um die südöstlichen Teile der damals von Deutschland okkupierten Polnischen Republik zu »entpolonisieren«. In insgesamt etwa 2300 Dörfern und Siedlungen auf dem Gebiet von fünf Wojewodschaften starben durch gezielte Massaker über 100 000 Polen einen grausamen Tod. Polnischen Vergeltungsaktionen der »Selbstverteidigungsgruppen« und der Landesarmee (AK) fielen etwa 20 000 Ukrainer zum Opfer.

Zur neuzeitlichen Vorgeschichte dieser Gräueltaten gehören folgende Tatsachen: In Gebieten, in denen die Bevölkerung auf dem flachen Lande bis zu 70 Prozent ukrainisch war, kam es vor dem Zweiten Weltkrieg von polnischer Seite zu hässlichen »Befriedungen« - als Antwort auf die Untergrundaktionen ukrainischer Aktivisten, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs für einen unabhängigen Staat sowohl gegen das sowjetische Russland als auch gegen Polen kämpften. Seit 1939 wurden die polnisch-ukrainischen Gegensätze und der beiderseitige Hass zuerst von den Sowjets, dann von den Deutschen zusätzlich geschürt.

Der Versuch, eine gemeinsame Wertung der blutigen Ereignisse jener Zeit herbeizubeten, erwies sich bisher als ebenso fruchtlos wie das gegenseitige Aufrechnen der Opferzahlen. Am 11. Juli wurde in Warschau bei einer offiziellen Feier der polnischen Opfer, aber auch jener Ukrainer gedacht, die damals ihren polnischen Nachbarn beistehen wollten und dafür ebenso ermordet wurden. Im Parlament stritt man am folgenden Tag darüber, ob das damalige Gemetzel als »ethnische Säuberung mit Anzeichen von Völkermord« oder glatt als »Völkermord« zu bezeichnen sei. Es war eine unmögliche Debatte, denn die Wahrheit erschließt sich nicht durch Mehrheitsbeschlüsse. In der Abstimmung obsiegte als Zeichen des polnischen Engagements für die EU-Assoziation der Ukraine die mildere Version. Wie sich aus einer Fernsehdiskussion zwischen den ehemaligen Präsidenten Aleksander Kwasniewski und Leonid Kutschma am 10. Juli ergab, wird Kiew auch diese nicht akzeptieren.

Dazu gibt es einen internationalen Kontext. Oberst Jan Niewinski, der damals eine Selbstverteidigungsgruppe in Wolhynien befehligte und heute dem Komitee der Überlebenden vorsteht, sagte im Gespräch mit dem linken »Przeglad«: »Wir, die Menschen aus dem ehemaligen Grenzland, haben die Ukrainer niemals mit der Schuld der OUN und der UPA belasten wollen … Das Verhältnis unserer Politiker zu dem Massaker ergibt sich aus den globalen Plänen des Westens, hauptsächlich der USA. Die Ukrainer, insbesondere die Nationalisten, werden gebraucht, um Russland zu beißen und zu schaden. Uns, den Polen, wurde da eine bestimmte Rolle zugeteilt, wir sollen um jeden Preis auf die polnisch-ukrainische Freundschaft und Versöhnung hinarbeiten.«