Malen mit Buchstaben

Rolf Hochhuths »Aphorismen«: Dieses Buch ist eine »Wunderkammer«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Titel dieser Aphorismen lautet »Was vorhaben muss man«. Was er damit meint, hat der 82-jährige Rolf Hochhuth dann in einer jener Sentenzen, aus denen sich das Buch zusammensetzt, erläutert: »Die Fahrten bejahen, die man fahren muß. Im Sinne der Maxime Churchills, nicht zu tun, was man liebt, sondern zu lieben, was zu tun ist. Es bringt keine Einsicht, es lähmt und verlangsamt, sich zu sträuben oder auch nur innerlich aufzulehnen gegen das uns Auferlegte.« Das ist die poetisierende Langfassung dessen, was er im nächsten Aphorismus in fast schon schneidender Kürze zu sagen weiß: »Ungestraft wird keiner alt.«

Rolf Hochhuth ist jemand, der tatsächlich immer was vorhat: ein neues Stück, einen neuen Streit (mit Claus Peymann etwa, der in der Hochhuth gehörenden Immobilie des Berliner Ensembles zu wenig Hochhuth spielt, wie der Autor findet), neue Gedichte ohnehin. Hochhuth ist ein hochfahrender Charakter alter Schule. Leute, die er nicht kennt, serviert er nicht selten kalt ab, insbesondere Journalisten bescheidet er gern, er sage kein Wort ohne Diktiergerät. Aber ansonsten ist er ein geselliger Mensch, der sich nicht vorstellen kann, anders als in Gesellschaft zu Abend zu essen. Wer mit ihm etwas besser bekannt ist, muss damit rechnen, des öfteren von ihm angerufen zu werden. Diese Telefonate beginnen dann meist mit einem Prolog wie diesem: »Alt werden ist eine einzige Demütigung.«

Der so tagtäglich vom Leben Gedemütigte gibt sich allerdings überaus stolz. Es ist jener seltene Typus Autor, der sich an Gottfried Benn oder Ernst Jünger misst, ohne derer Ansichten zu teilen. Ansichten und Meinungen langweilen ihn ohnehin, wichtig ist nur eins: der Ausdruck! Die politische Geschichte der Deutschen und Angelsachsen betreffend, schöpft Hochuth bevorzugt aus Bismarck und Churchill. Ohne eine starke essayistische Komponente ist sein Werk nicht denkbar. Die geschliffene Formulierung antwortet immer auf eine andere geschliffene Formulierung, auch wenn diese sich in einem hundert Jahre oder älteren Buch findet, das heute keiner mehr kennt. Hochhuth kultiviert in seinen Essays - und auch diese Aphorismen sind verknappte Äußerungen eines Essayisten - das Gespräch bedeutender Geister (Selbstdenker allemal) über die Zeiten hinweg.

Hochhuth ist dabei auf selbstverständliche Weise ein Bildungsgutträger, ohne je Bildungsbürger sein zu wollen. Was ist er dann? Provokateur auf hohem Niveau mit Sinn für das geschichtliche Herkommen, aus der jeweils herrschenden Zeitgeistperspektive oft nur ein Querulant. Aber diese Rolle des eigensinnigen Narren zu spielen, ist die ureigenste des unabhängigen Intellektuellen. Früher stritt Hochhuth mit Adorno oder Jaspers, heute sucht er oft vergeblich nach ebenbürtigen Gegnern. Gibt es keine intellektuellen Debatten mehr in diesem Land? Aus purer Langeweile, so scheint es, führt er nun bizarre Ersatzkriege um Mietverträge mit dem Berliner Senat. Wie ein Kommentar dazu klingt folgender Aphorismus: »Der Verdacht, ein bisschen hysterisch zu sein, kommt Hysterikern zuletzt.«

Der von Hochhuth leider wenig geschätzte Friedrich Nietzsche sagte, er mache sich aus einem Menschen gerade so viel, wie er ein Beispiel zu geben vermag. Für Hochhuths Altersdichtung, die jeden Anflug von falscher Harmonie mit der Welt strikt vermeidet, ist Fontane dieses Beispiel. Als »Effi Briest« entstand, war er immerhin schon fünfundsiebzig und schrieb an seinen Verleger, er fange erst an. Mit solch Pioniergeist, das Ende schon vor Augen, kann man Rolf Hochhuth imponieren.

Gottfried Benn schrieb in seinem Aufsatz »Altern als Problem für Künstler«, sich die großen Künstler der Jahrhunderte vor Augen haltend, von einer »bionegativen Olympiade«. Hochhuth ist Anti-Moralist (trotz Nietzsche-Verachtung) genug, das zu unterschreiben. In seinen Aphorismen sammeln sich Erfahrungen mit Verlegern, mit Lesern, mit Stoffen - aber mehr noch mit Frauen und mit seinen Söhnen. Manches scheint sehr privatim, wie am Stammtisch notiert, manches geradezu geschmacklos - man darf annehmen, dass dieser Effekt gewollt ist. Aber in all den Notaten vom Tage scheint eines gewiss: Da ist jemand notorisch neugierig auf andere Menschen, was sie tun und denken. Da redet jemand nicht nur gern (das auch), sondern hört ebenso gern zu.

Da sammelt einer ständig - und zu diesen Voraussetzungen eines so lange schon produktiven Autorenlebens gehört ein immer griffbereites Notizbuch. Illusionen über die Berufsschriftsteller hat er keine: »Warum Schriftsteller einander nie besuchen? Keiner hat die Bücher des anderen gelesen! Noch dümmer als Frauen über Frauen reden Männer - aller Berufe - über Berufskollegen.« Den Anwendungsfall dieser Art von niveauvoller Beschimpfung gibt es im Buch gleich mehrfach. Über den kürzlich verstorbenen FAZ-Feuilletonisten Henning Ritter lesen wir unverblümt: »Ritter war immer artig - gleichsam mit gezogenem Scheitel zur Welt gekommen, doch in das bundesdeutsche Feuilleton getreten, dem es dank Bonner Grundgesetz verwehrt war, rebellische Bücher auch zu verbrennen, deren Erscheinen sie aber verschwiegen, deren Autoren sie verrissen haben.« Hochhuths Analogien sind ebenso respektlos wie drastisch, natürlich politisch jedes Mal vollkommen inkorrekt (manchmal auch tatsächlich abwegig). Wenn er sich etwa angesichts eines jungen ehrgeizigen Journalisten an seinen Fähnleinführer im Jungvolk erinnert fühlt, hält man verblüfft inne. Gut, wer in einem langen Leben Vergleiche zu ziehen gelernt hat!

Dieses Buch ist das, was man in der Frühneuzeit des Barock, als es noch die »fruchtbringenden Gesellschaften« zur Stärkung der deutschen Sprache gegen das übermächtige Latein gab, eine »Wunderkammer« nannte. Also Jahrmarktssensation, Rarität, Rumpelkammer, Fetisch, Fundstück, Geheimarchiv und Kleinod. Immer alles zugleich und recht unordentlich angehäuft! Über seinen heimlichen Übervater lesen wir: »Churchill, der vielleicht nur neunzig und zum Titanen wurde, weil er zeitlebens mit aufmerksamster Zärtlichkeit der eigenen Person zugewandt blieb, hat in ›Malen als Zeitvertreib‹, einem seiner Essays, die Entdeckung weitergegeben, es habe keinen Sinn, zum Beispiel Fußball zu spielen, wenn man am Schreibtisch sein Gehirn abgebraucht hat: denn die Knie, die Beine hat man dort nicht müde gemacht, sondern das Hirn. Folglich müsse man auch nicht Sport treiben, sondern das Gehirn erholen: ablenken! Deshalb habe er sich eines Tages, ohne besonders gut zeichnen zu können, Ölfarben gekauft und zu malen begonnen!«

Hochhuth dagegen malt bereits, wenn er noch schreibt. Er lenkt sich so gleichsam von dem ab, worauf er sich eben noch konzentriert hat. Seine »Aphorismen« offenbaren diese Doppelbewegung jederzeit. Sie sind im besten Sinne unzeitgemäß: altmodisch und modern zugleich. Im Ganzen ein unterhaltsames Stück Belehrung!

Rolf Hochhuth, Was vorhaben muß man, Aphorismen. Rowohlt Verlag, 140 S., geb., 16,95 €.

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