Gemeinsame Suche im Nebel

Theaterregisseur Dieter Dorn über die Sinnkrise des modernen Theaters

  • Lesedauer: 6 Min.
nd: Herr Dorn, in Ihrer Autobiografie blicken Sie zurück auf über ein halbes Jahrhundert Regiearbeit und über hundert Inszenierungen. Zeichnet sich für Sie in der Rückschau ein Entwicklungsweg ab?
Dorn: Wir neigen dazu, unsere Lebenserfahrungen rückwärts zu sortieren, um Niederlagen ebenso wie Begegnungen als etwas zu empfinden, das uns besonders geholfen hat. Aber es besteht tatsächlich eine große Kontinuität zwischen dem, was ich während meines Studiums gehört und gesehen habe, und meiner darauffolgenden Arbeit am Theater. Ich habe die Farben meiner Palette relativ früh gefunden. Auch der Gedanke der Truppe, wie er von Shakespeare und Molière, meinen großen Vorbildern, verwirklicht wurde, gehörte von Anfang an zu meinen Vorstellungen. Es war immer mein Traum, eine Truppe künstlerisch gleichgesinnter Schauspieler und Schauspielerinnen zu haben, die einander ergänzen und einen gemeinsamen Weg gehen.
Als Intendant konnten Sie weitgehend selbst bestimmen, welche Stücke Sie inszenieren. Wie musste ein Stück sein, damit es in Ihnen die Lust weckte, es auf die Bühne zu bringen?
Was die Stadt bewegt, was mich bewegt – das waren für mich die Kriterien bei der Wahl der Stücke. Das Theater ist ein öffentliches, ein gesellschaftliches Instrument, bezahlt von der Polis. Das heißt, es muss für die Stadt etwas bedeuten. Ein Theater ist ein wesentlicher Punkt der Identifikation für eine Stadt. Daher ist es auch nicht gut, wenn die Politik es aufgrund der Subventionen auf die Abraumhalde schickt.
Würden Sie Ihr Theater als ein politisches bezeichnen?
Das Theater, das mich interessiert hat, war ein politisches im weitesten Sinne des Wortes. Die großen Dramatiker, egal aus welcher Zeit sie stammen, haben wie ein Parabolspiegel unsere Probleme hervorgehoben. Wenn ich Shakespeares »Kaufmann von Venedig« inszeniere, ergibt sich der Bezug zur Gegenwart spannend für den Zuschauer aus der Fabel, die das Stück erzählt. Das Theater muss den Weg in die Fabel suchen, die zulässt, dass sich noch Gegenwart hineinbewegt, statt ein Stück so lange kleinzuschneiden, bis die Figuren Ähnlichkeit haben mit irgendwelchen zeitgenössischen Politikern. Shakespeares Stücke zeigen die Verlorenheit des Menschen in der Gesellschaft. In ihnen liegt etwas, das einen unbewusst bewegt und woraus man spürt, dass das genau der Text der Stunde ist.
Brecht bezeichnen Sie als Ihr »großes, ja umschwärmtes Idol« und betonen, dass man an seiner Spielweise »heute gar nichts Besonderes, Befremdliches mehr findet«. Ist Brechts einst revolutionäres Theater bereits Allgemeingut geworden?
Das kommt aus der Sicht eines Studenten der Theaterhochschule Leipzig, an der es vor dem Hintergrund des sozialistischen Realismus ein festgeschriebenes System gab, das Stanislawski-System. Es verlangte psycho-physische Einfühlung in die Figur, ein genaues Spiel, das das Produzieren völlig draußen lässt und in die Illusion hineingeht. Stanislawski vermochte das atemberaubend. Dagegen aber stand Brecht, der Brüche setzte, Geste und Wort nicht gleichzeitig, sondern hintereinander brachte und die Widersprüche einer Figur offenlegte.
1982 fand an den Münchner Kammerspielen ein Gastspiel des Theaterkünstlers Robert Wilson statt. Sie nennen seine Arbeit im Rückblick »Theater einer völlig anderen Zeit«, »ein ganz und gar neues Vokabular«. Hat dieses Vokabular eine Weiterentwicklung durch andere Regisseure erfahren?
Da gibt es kein Weiter. Ich habe in meiner Jugendzeit auch einige Inszenierungen versucht mit Masken und großen formalen Lösungen in Richtung Marionette und weg vom Menschen. Für mich war das nicht der richtige Weg. Man kann damit sehr weit gehen. Irgendwann jedoch gelangt man an ein Ende, weil dieses Material sich formal nicht weiterbringen lässt. »Die goldenen Fenster«, die wir damals an den Münchner Kammerspielen zeigten, waren schon die Endformulierung von Bob (Robert Wilson - d.Red.). Sie war ganz extrem, und ich fand sie großartig. Die Verlängerung der Zeit findet man bereits bei Brecht. Bob aber zerdehnte manche Vorgänge so ungeheuer weit, dass sie sich über Minuten erstreckten, obwohl es sich nur um eine Geste handelte. Peter Stein, der etwa den gleichen Weg wie ich ging, nannte Bobs Arbeiten gehässig »Schaufensterkunst«. Wenn man es von der falschen Seite betrachtet, trifft die Bezeichnung zu. Aber darin liegt auch das Faszinierende.
Mit Ironie und auch ein wenig Spott blicken Sie auf »die Jahre der Mitbestimmung« am Theater zurück. Empfanden Sie das als eine fruchtlose Zeit?
Nein, das war schon nötig. Zuvor hatten wir ein Regieansagetheater. Das wurde aufgebrochen. Aber es wurde dann extrem in die andere Richtung getrieben, sodass ich zum Beispiel bei einer Inszenierung, bei der das gesamte Ensemble mitbestimmte, über die leere Bühne nicht hinauskam. Wenn ein Regisseur mit seiner Truppe arbeitet, ist das Theater ohnehin ein mitbestimmendes. Man kann mit großen Schauspielern nicht ohne deren hundertprozentige Zustimmung arbeiten. Es müssen alle in einem Boot sitzen. Der Regisseur stochert dann im Nebel und weist die Richtung, in der der Kontinent liegen muss, den es zu entdecken gilt. Die Erarbeitung einer Inszenierung ist eine gemeinsame Suche im Nebel.
Sehr kritisch äußern Sie sich über das amerikanische Sponsorenwesen. Allerdings setzt sich diese Art der Geldbeschaffung auch hier durch – mit allen Folgen. Wird man diese Entwicklung aufhalten können?
Das ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits war ich beeindruckt von den in der Metropolitan Opera in New York ausliegenden Büchern, in die sich einfache Leute mit ihren Spenden eintragen können, zehn Dollar, zwanzig Dollar. Andererseits haben wir gerade an der Metropolitan Opera erlebt, dass eine entscheidende Sponsorin ihre Millionen zurückhaben wollte, weil meine »Tristan«-Inszenierung nicht ihren Vorstellungen entsprach. Das passierte mir auch bei einem Tokio-Gastspiel. Da zog BMW das Geld zurück mit der Bemerkung des Vorstands, das sei nicht sein »Faust«. Die Unabhängigkeit ist ungeheuer in Gefahr. Dennoch wird man diese Entwicklung nicht aufhalten können. Gefordert ist die Politik. Aber die öffentlichen Haushalte nutzen dieses Sponsorenwesen für einen weiteren Ausstieg aus den Subventionen. Dem Stadttheater, übernommen im Stolz des Bürgertums, es dem Feudalen gleichzutun, droht damit der Untergang.
Sie haben Ihrer Autobiografie einen in die Zukunft gewandten Titel gegeben: »Spielt weiter!« Wie wird es weitergehen mit dem Theater?
Seit es unser europäisches Theater gibt, wird es von Krisen geschüttelt, Sinnkrisen und allgemeinen Krisen. Das Theater ist aufgerufen, sich wieder intensiver auf seine Mittel zu besinnen. Diese Mittel sind ganz einfach. Das ist ein Brettergerüst. Da kann man von links, von rechts oder von hinten auftreten, seit Euripides auch von oben. Er war der erste, der eine Figur gegen die Sonne auf einem großen Kran hereinführte. Videos und dergleichen gehören nicht ins Theater. Der spielende Mensch, der eine Gegenwelt entstehen lässt – das ist Theater. Und die Verabredung, dass man diesem Spiel zusieht, ist eine der größten Erfindungen der Menschheit.
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