Werbung

Woodstock im Berg

Die Tour de France erreicht ihre Fanmeile in L’Alpe d’Huez

  • Tom Mustroph, L’Alpe d’Huez
  • Lesedauer: 6 Min.
Eine Million Zuschauer erwartet der Bürgermeister von L’Alpe d’Huez, Jean Yves Noyrey, zur 18. Etappe der Tour de France an diesem Donnerstag. Die Radprofis müssen den »Berg der Holländer« in den französischen Alpen bei der 100. Tour de France gleich zweimal erklimmen. Ein Fest für die Radsportfans, die ihre Helden immer noch verehren.

Wer die Einsamkeit der Berge sucht, ist dieser Tage fehl am Platz auf der einstigen Alpe des Örtchens Huez mitten in den französischen Alpen. Seit zehn Tagen rollen hier bereits Wohnwagen aus aller Welt an. Insgesamt sind es über 2000. »Wir sind seit acht Tagen hier. Da war an dieser Kurve noch niemand«, erzählt Joke. Die belgische Touristin hat es sich in ihrem Campingstuhl bequem gemacht und löst Sudokurätsel. In den vergangenen Tagen hat sich eine norwegische Fangruppe neben ihr angesiedelt. Dazu ein paar Schweizer. Joke hat von einem Mannschaftsauto noch ein großes Werbebanner vom Team Lotto bekommen, das ihren Wohnwagen jetzt verziert. »Das passt. Ist ja ein belgisches Team«, sagt sie - ohne freilich in allzu heftige Fan-Gebaren zu verfallen. Denn eigentlich ist sie nur wegen ihres Mannes hier.

Der ist slowakischer Herkunft und hat stolz ein grünes Trikot ausgestellt. Das echte Leibchen des besten Sprinters der Tour de France trägt sein Landsmann Peter Sagan durch Frankreich und an diesem Donnerstag gleich zweimal nach L’Alpe d’Huez hinauf. Und während Jokes Mann die Wartezeit damit totschlägt, selbst diesen legendären Berg mit dem Rad rauf und runter zu fahren, bleibt die Ehefrau am Wohnwagen. Manchmal spaziert sie ein wenig. Vor allem aber löst sie Sudokus. »Wird Zeit, dass die Fahrer kommen. So langsam reicht es mir«, sagt sie.

Die Norweger auf der anderen Straßenseite haben es nicht so eilig. »Erst wollen wir wieder unsere Fahnen zurück«, sagt Ingvar. In der vergangenen Nacht haben Unbekannte einige der Flaggen gestohlen, mit denen die ganze Serpentine ausgeschmückt ist. »Nach dem Rennen können sie ja fragen. Aber jetzt wollen wir sie wieder haben«, schimpft Ingvar.

Eine energische Suche startet er trotzdem nicht. Dafür ist es den Norwegern viel zu heiß. Also stellen sie die Campingstühle in den Schatten und trinken Unmengen Bier. Dies ist, geben sie fröhlich zu, ihre Hauptbeschäftigung.

Das gilt nationenübergreifend. Eine Kurve weiter erstickt ein Belgier den Schmerz mit Wodka, den ihm seine Hand bereitet. Beim hektischen Platzbesetzen hatte er sie sich in der Autotür eingeklemmt. Ein paar der insgesamt 21 Serpentinen weiter unten erzählt ein Niederländer, dass seine 25-köpfige Reisetruppe 500 Liter Alkohol als Basisausrüstung mitgenommen hat. Trotzdem muss sie sich täglich im Dorf neu eindecken.

Wegen der Mengen an Alkohol ist Bürgermeister Jean Yves Noyrey in Sorge. Seine Gemeindeverwaltung hat Broschüren mit Verhaltenstipps drucken lassen - auf Französisch und Niederländisch. »Die Holländer stellen die größte Gruppe hier. Wir arbeiten sogar eng mit ihrem Botschafter zusammen. Anfang Juni waren schon 30 000 Holländer hier, die sich am Benefizrennen einer Krebsstiftung beteiligten«, sagt er. 8000 von ihnen fuhren bis L’Alpe d’Huez hinauf. Ziel war es, dass jeder im Laufe eines Tages sechsmal den »Berg der Holländer« bezwingt.

1999 und 2001 gewann Lance Armstrong Etappen hier - beide Male gedopt, wie man heute weiß. Trotzdem bleibt der Name des US-Amerikaners auf den Schildern der Serpentinen 19 und 21 verewigt. Jeder Etappensieger von L’Alpe d’Huez wird so geehrt. »Wir haben entschieden, den Namen dranzulassen, denn er ist Teil der Tourgeschichte«, sagt Bürgermeister Noyrey. »Und außerdem: Wenn wir bei ihm anfangen, bei wem hören wir dann auf?«

Bei den Fans ist Doping ohnehin kein Thema. Sie fahren lieber noch kurz vor der Tourankunft selbst hinauf. Verblüffend ist dabei, auf welch unterschiedliche Arten sie es versuchen. Neben den üblichen Rennrädern sind schwere Mountainbikes unterwegs. Zwei füllige Männer haben sich auf ein Tandem gesetzt und führen ihre mobile Musikanlage mit. Radsport-Edelfan und Tourteufel Didi Senft bringt mit einem Liegerad einen vier Meter hohen Eiffelturm auf den Gipfel. Andere haben Rollerski an den Füßen, manche joggen. Ein Fahrradfahrer ist bis auf einen Lendenschurz splitterfasernackt.

Alles scheint möglich auf diesem Berg. Es herrscht ein groteskes Nebeneinander von Ordnung - Absperrgitter sind aufgebaut, Mülltüten hängen alle zehn Meter und WCs sind installiert - sowie völligem Laissez-faire, das Erinnerungen an ferne Hippiezeiten aufkommen lässt. Passend dazu der Hinweis: Wer Drogen erwerben möchte, möge sich in Serpentine 7 melden. Dort befindet sich das Gravitationszentrum der Niederländer. Ein Bierstand ist aufgebaut, Musik dröhnt aus den Boxen und übertönt die Motoren der Fahrzeugkarawane, die den Berg hoch kriecht. »Seit drei Tagen stehen wir hier, machen Schichten rund um die Uhr und sind für alle da, die etwas wollen«, sagt der Barkeeper. Sein Name ist angesichts des Krachs und der von ihm konsumierten Menge an Getränken nicht mehr zu verstehen. Damit nicht alles aus dem Ruder läuft, haben die Niederlande zehn Polizisten abgestellt.

»In diesem Jahr sind sie ja noch recht ruhig«, sagt Horst Brückner, Tourveteran aus Zschopau. »Aber wir haben schon erlebt, dass die Holländer in Kurve 7 Milchkannen mit Karbid füllten, das Ganze mit Wasser aufgossen und dann einen Gummiball draufpressten. Das hat nachher gerumst, dass der ganze Wohnwagen gebebt hat. Das war schon grenzwertig«, erzählt er.

Generell gehe es aber friedlich zu unter den Fans aller Nationen. »Uns haben Franzosen auf diesen Stellplatz gelassen. Zwar erst gegen eine Flasche Wein, aber das ist okay«, sagt Brückner. Der Ex-Radsporttrainer aus Chemnitz - er hatte einst auch den zwölfährigen Jan Ullrich unter seinen Fittichen - ist seit 1994 bei der Tour. 1996 hatte er mit Kreide »Jan, Jan« auf die Straße gemalt. Die Franzosen seien gekommen und hätten gefragt: »Dschann, Dschann - wer ist das«, erinnert sich seine Tochter. »Damals kannte ihn ja kaum einer«, erklärt der Papa. Voller Stolz erzählen beide noch 17 Jahre nach dem Ereignis, dass Jan Ullrich die Aufschriften bemerkt und sich gefreut hätte, dass damals schon jemand von ihm Notiz nahm. Mittlerweile gilt ihre Unterstützung Markus Burghardt, der wie Familie Brückner aus Zschopau stammt.

Die Gemeinde L’Alpe d’Huez kostet die Pilgerreise der Million Radsportfans etwa 300 000 Euro. »250 000 Euro müssen wir für die Infrastruktur und die Sicherheit aufwenden, 50 000 Euro gehen an die Tourorganisatoren der ASO«, erzählt Bürgermeister Noyrey. Hinzukommen 400 000 Euro, die andere Gemeinden für die Befestigung der Abfahrt auf der Rückseite von L’Alpe d’Huez aufbringen mussten. Denn die müssen die Profis in diesem Jahr erstmals zusätzlich hinunter. Noyrey ist zuversichtlich, dass die von Athleten heftig kritisierte Abfahrt nun kein Problem mehr darstelle.

Als Sieger wünscht er sich selbstredend einen Franzosen. Und wenn das nicht klappt, soll›s ein Holländer werden: »Für die vielen Fans hier!« Es wäre der Höhepunkt der Oranje-Party.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal