nd-aktuell.de / 17.12.2005 / Kultur

Die Rehe sind ganz Ohr

Lebensart: Wie man am besten weihnachtliche Gefühle erzeugt

Tom Mustroph
Lebensart
Zeichnung: Mirella Weingarten
»Brauchen wir dieses Jahr einen Weihnachtsbaum?«, fragte die Mutter in die Runde und beantwortete die Frage gleich selbst. »Du Markus, bist jetzt 16 und schon zu alt dafür. Carolin wird bei den Eltern ihres Freundes mitfeiern und du, geliebter Mann, hast ohnehin keine Zeit, einen Baum zu beschaffen.« Sie blickte triumphierend in die Runde und freute sich, dass dieses Jahr endlich der Kelch an ihr vorüberging, einen Baum zu besorgen, der von allen wieder kritisiert werden würde, ihn allein aufzustellen und Mann und Sohn den Weihnachtsschmuck aus dem Keller hochzutragen. Die behaupteten immer, nicht zu wissen wo die Kiste stünde. Doch Markus mochte sich mit einem Weihnachten ohne Baum nicht abfinden. Auch sein Vater schaute traurig drein. Als Markus ihm vorschlug, den Baum heimlich anzuschaffen und zu schmücken und dann am Weihnachtsabend hineinzubringen - es könne ja auch ein kleiner Baum sein - winkte der Vater nur ab. »Wie soll das denn gehen? Du weißt doch, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, haben die Weihnachtsbaumverkäufer schon wieder alles verpackt. Und überhaupt, wo willst du den Baum denn verstecken? Woher den Schmuck nehmen?« »Ich weiß doch, wo der ist«, meinte Markus verschmitzt. Als er einige Tage später über die Weihnachtsbaummärkte zog, war er vom Angebot überwältigt. Sollte er eine Tanne nehmen oder doch eine Fichte, aus deutschen oder polnischen Wäldern oder gar aus Sibirien? Als ihm ein Exemplar schließlich perfekt erschien, war der Preis zu hoch. Die Sache mit dem Baum sei nur so eine Idee, murmelte er, als er von dannen schlich. Schließlich zog er mit einer Säge in den nahen Wald. »Ich hole mir meinen Baum selbst und keiner kann mich aufhalten«, machte er sich Mut. Er fand eine Fichte und setzte schon die Säge an. Dann stutzte er. »Nur für mein Vergnügen einen Baum fällen, ihn von seinen Wurzeln trennen und wenig später wegwerfen? Nein, das geht nicht.« Er hatte eine viel bessere Idee. Am Weihnachtsnachmittag, der Vater musste mal nicht arbeiten, zogen die beiden Männer in den Wald und schmückten den von Markus ausgesuchten Baum. Markus hatte Lametta, Kugeln und Kerzen im Keller gefunden. Carolin hatte ihm noch verraten, wo die Spitze aufbewahrt wurde. Am Abend führten sie die Mutter in den Wald, die von der glitzernden Pracht sehr beeindruckt war. »So ein Baum ist doch schön«, musste sie zugeben. Später kam auch noch Carolin. »Es war langweilig bei den Eltern von Max. Die hatten keinen Baum, haben nur gegessen, nichts gesungen und Max' Mutter hat von den Kochkünsten von dessen früherer Freundin geschwärmt. Ich glaube, diese Familie ist nichts für mich!« Sie begann zu singen. Bruder, Mutter, Vater stimmten ein. Eichhörnchen, Rehe und Füchse waren ganz Ohr. Die Familie beschloss, sich jedes Weihnachten an diesem Ort zu treffen, egal wohin es den einzelnen im Jahr verschlagen sollte.