Singen für den Frieden

Regisseurin Désirée von Trotha drehte »Woodstock in Timbuktu« über ein Festival in der Sahara

  • Lutz Debus
  • Lesedauer: 7 Min.

Die älteren Rockbegeisterten werden sich an die Szene noch gut erinnern. Fast am Ende des Films »Woodstock - 3 Days of Peace & Music« erklingt die US-amerikanische Nationalhymne, interpretiert von Jimi Hendrix. Mit der übersteuerten Gitarre imitiert er fallende Bomben, Detonationen - und protestiert so mit musikalischen Mitteln gegen den Vietnamkrieg. In diesen Wochen läuft in ausgewählten Kinos der Film »Woodstock in Timbuktu«. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die beiden Filme sehr. Während der US-amerikanische Film aus dem Jahr 1970, der dem legendären Hippie-Festival, das ein Jahr zuvor in der Nähe der Kleinstadt Woodstock stattfand, ein Denkmal setzte, spielt die nun aktuelle Dokumentation in einer der ärmsten Regionen der Welt, in der südlichen Sahara. Die Filmemacherin Désirée von Trotha erklärt, warum sie trotzdem eine Analogie zwischen beiden Festivals sieht: »Woodstock repräsentiert für mich die US-amerikanische Friedensbewegung jener Zeit. Und bei dem Festival in Timbuktu, dem ›Festival au Désert‹ ging es ja auch hauptsächlich um den Frieden.«

Tatsächlich sind sich die beiden Filme ähnlicher, als es auf den ersten Blick erscheint. Bereits die dramaturgische Gestaltung verrät Parallelen. Konzertmitschnitte wechseln sich mit Interviews und Impressionen ab. Und beide Geschichten beginnen mit den Vorbereitungen. Während 1969 Bulldozer das Gelände planierten, die Bühnenkonstruktion zusammengehämmert wurde und Scheinwerfer an Kranseilen durch die Luft schwebten, sehen wir in der Sahara Lastwagen, die turmhohe Berge von Matratzen transportieren. Dann aber die nächste Szene. Die Afrikaner der Jetztzeit sind den US-Amerikanern der 60er Jahre technisch weitaus überlegen. Der Informatiker des »Festival au Désert« Illily Ag Elmehdi entwirft den Lageplan des Festivalgeländes auf einem Notebook. »Hier wird das Kamelodrom aufgebaut«, erklärt er, während er die verschiedenen grafischen Elemente mit der Maus über den Bildschirm zieht. Mit Kamelodrom meint er den Parkplatz für die Tiere.

Kamele und Computer? Die Gäste des Wüstenfestivals kommen mit Kamelen angeritten. Nur wenige nehmen den Bus oder den allradgetriebenen Geländewagen. Aber schon in der nächsten Einstellung wird der Zuschauer wieder mit der Moderne konfrontiert. Manny Ansar, Gründer und Präsident des Festivals, sitzt in seinem Zelt, am Handgelenk eine schwere Armbanduhr und im Gesicht eine modische Designerbrille. Er erklärt die Entstehungsgeschichte des Festivals: »Wir haben beschlossen, uns der Welt zu öffnen. Wir können uns nicht dauerhaft hinter den Dünen verstecken.« Bis zur Jahrtausendwende gehörte das Treffen im Winter zur Tradition der Nomaden der westlichen Sahara und war quasi eine Familienfeier. Dann aber öffnete es sich modernen Einflüssen und präsentierte elf Jahre lang zeitgenössische Musik der Region. Dass das nun dokumentierte Festival im Jahr 2011 das vorerst letzte war, wird an dieser Stelle des Films noch nicht erwähnt.

Deutlich wird, dass viele Bilder nicht dem entsprechen, was Mitteleuropäer normalerweise von der Sahara vermittelt bekommen. Da gibt es das traditionelle Kamelrennen, bei dem junge schlanke Reiter mit ihren eleganten Reittieren um den ersten Platz streiten. Die umstehenden Frauen fotografieren das Geschehen mit ihren Handys. Wenig später schauen sie sich die Fotos auf großen Flachbildschirmen an. Der angebissene Apfel, der als Synonym für die moderne Informationsgesellschaft gilt, findet sich, geschützt von Zeltplanen, auch in der größten Wüste der Welt.

Tuareg werden die Nomaden dieser Wüste von Europäern und den sesshaften Bewohnern der Sahara-Staaten genannt. Intagrist El Ansari ist Schriftsteller und Pressesprecher des Festivals. Er lehnt diesen Begriff ab. Wörtlich übersetzt heißt Tuareg »Die den Weg Allahs verlassen haben«. Für die Sesshaften sind die Nomaden zu frei, zu anarchisch, erfährt man von dem Schriftsteller. Intagrist El Ansari möchte lieber, dass sein Volk »Kel Tamaschek« genannt wird. Jener Name bezieht sich auf die lange Tradition der Nomaden Nordafrikas, auf deren Sprache und Kultur. Nun aber herrscht in den Zelten die Angst vor dem Untergang eben jener Kultur. Immer wieder wurden Kriege geführt zwischen modern ausgerüsteten Armeen und den Nomaden. Ein ungleicher Kampf. Schon während der Kolonialzeit gab es immer wieder bewaffnete Konflikte. Am Ende jener Epoche, etwa ab 1960, wurden die Kel Tamaschek auf fünf Länder verteilt und von fremden Völkern regiert. Die neu entstandenen Nationalstaaten betrachteten die ewig Reisenden mit Misstrauen, weil diese die gerade festgelegten Grenzen nicht respektierten. Es folgten blutige Auseinandersetzungen zwischen den Konfliktparteien. Im Film wird auch diese Geschichte kurz angerissen. Aus dem Off hört man die Stimme eines ehemaligen Rebellen, der von dem blutigen Krieg in den 1990er Jahren berichtet: »Soldaten kamen mitten in der Nacht. Man verhaftete unsere traditionellen Familienoberhäupter und richtete sie hin. Das Militär besetzte zahlreiche Brunnen. Man erschoss alle Ankommenden, selbst unsere Tiere.«

Die Filmdokumentation unterschlägt aber auch nicht, dass der Konflikt durchaus ökonomische Ursachen hat. Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich spielt hierbei eine wichtige Rolle. Im Nomadengebiet der Republik Niger fördert seit Jahrzehnten das französische Staatsunternehmen Areva Uranerz für die Atomkraftwerke in Frankreich. Die Bergbaugebiete vernichten Weideflächen, verbrauchen viel Wasser und Strom und hinterlassen »strahlende« Abraumberge. Niger hat global die größten Uranvorkommen, ist aber das ärmste Land der Welt. Dass die Bevölkerung dieser Gebiete noch nicht einmal genug Geld hat, um Brunnen zu bohren, empört einen Nomaden, der von Désirée von Trotha befragt wird: »Es ist ein geopolitisches Problem. Gas, Öl, Uran und Solarenergie sind reichlich vorhanden. Dies führt dazu, dass mächtige Länder ihre Interessen in der Sahara verfolgen.«

Eine Gruppe, die ihre eigenen Interessen in der Region hat, sind die Salafisten. Nach dem Sturz Gaddafis in Libyen kehrten viele schwer bewaffnete Tuareg-Milizen nach Mali zurück und brachten eine neue Welle der Gewalt mit. Dabei sind nicht alle arbeitslos gewordenen Söldner unbedingt Salafisten, betont der Sicherheitschef des Festivals, Ahmed Ag Hama. Bei den verschiedenen Konfliktparteien gehe es nicht nur um den wahren Glauben, sondern oft schlicht um Geld und Waffen. Es gebe Salafisten und Mafiosi. Sogar die Salafisten hätten einen Drogenzweig. »Ich sehe nicht völlig schwarz, aber in den kommenden Jahren wird auch nicht alles rosa sein.« Ein Besucher des Festivals stimmt dem Sicherheitschef zu: »Jeder kann sich mit einer Geisel hinter einer Düne verstecken und die Presse anrufen, dass Al Qaida jemanden entführt hat, und die Presse wird das glauben.«

Obwohl Teile der Kel Tamaschek sich mit Salafisten verbündeten, um gemeinsam gegen die staatliche Autorität von Mali zu kämpfen, gebe es wenig Gemeinsamkeiten, erklärt Désirée von Throta. Während die Salafisten einen islamischen Gottesstaat predigen und diese Forderung auch mit Waffengewalt durchsetzen wollen, vertreten die Kel Tamaschek einen toleranten Islam. Désirée von Trotha lässt Frauen zu Wort kommen, um den Islam der Kel Tamaschek differenziert zu betrachten. Fatima Wallet Oumar, Gründerin der Frauenband TARTIT, sagt: »Wir gehören zu den freiesten Frauen in Afrika.« Tatsächlich tanzen verschleierte und unverschleierte Frauen zusammen mit Männern auf der Bühne. Die Konzertmitschnitte, die die nächtliche Sahara - bevölkert von Tausenden tanzenden und singenden Menschen - zeigt, verzaubern. Das Gelände des Festivals ist bis zum Horizont gefüllt mit begeisterten Besuchern. Auf der Bühne spielt ein Mann in traditioneller Kleidung auf einer E-Gitarre. Da ist sie wieder, die Parallele zu Woodstock. Orientalisch anmutende Rhythmen vermischen sich mit dem Klang der Gitarre eines Jimi Hendrix.

Warum aber gilt das Festival als Friedensfest? Die Öffnung für andere Ethnien begann nach dem Bürgerkrieg 1996. Nach den für alle Seiten verlustreichen Kämpfen schlossen die Konfliktparteien Frieden miteinander. Obwohl noch viele Lieder der Kel Tamaschek vom Krieg handeln, war die Musik ein Medium, um den Friedensprozess zu fördern. Stolz wird der Gitarrist einer Band angekündigt: »Das hier ist Bombino aus Niger. Er hat sich der Kalaschnikow verweigert und stattdessen zur Gitarre gegriffen.« Immer wieder schwingt der Slogan »Gitarren statt Knarren« mit, der ja vor vielen Jahren auch die bundesdeutsche Friedensbewegung begeisterte. Ahmed Ag Kaedi, Sänger und Gitarrist der Band AMANAR, sagt: »Die Gitarre ist unsere letzte Waffe.« Das Ziel sei eine kulturelle und politische Autonomie von den Staaten, die auf dem Gebiet der Kel Tamaschek ihre Territorien beanspruchen. Außerdem soll es einen besseren Zugang zu Wasser, Weideplätzen, medizinischen und Bildungseinrichtungen geben. Dabei wirken die Kel Tamaschek sehr gebildet, wie ein Seefahrervolk, nur eben Wüstenschiffe benutzend. Von allen bereisten Kulturen partizipieren sie, sind tolerant und weltoffen.

Der Film endet im Februar 2011. Die Entwicklung danach ist bekannt. Die Kel Tamaschek riefen den unabhängigen Staat Azawad aus. Salafisten nutzten das daraus resultierende politische Chaos, um ihrem Traum vom Gottesstaat näher zu kommen und marschierten mit ihren Einheiten Richtung Süden. Frankreich intervenierte Anfang dieses Jahres. Auch die Bundeswehr unterstützt logistisch, medizinisch, aber vor allem bei der Ausbildung malischer Soldaten die einstigen Kolonialherren bei der Wiederherstellung des Status quo. Die Kel Tamaschek, so ist zu befürchten, werden zwischen den Kontrahenten zerrieben. Alle Mitwirkenden des Films befinden sich inzwischen auf der Flucht und teilen somit das Schicksal von rund 150 000 Menschen, die laut UN innerhalb Malis flohen, und der 161 000, die im Ausland im Exil leben.

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