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Nach einem Jahr schon ausgewirtschaftet

Hatten die islamischen Parteien Ägyptens Visionen für grundlegende Veränderungen im Land am Nil?

  • Martin Hoffmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Der ägyptische Generalstaatsanwalt prüft nach Angaben aus Justizkreisen Klagen gegen den gestürzten Präsidenten Mursi und Mitglieder der Muslimbruderschaft. Neben Spionage und Aufruf zum Mord an Demonstranten wird ihnen auch wirtschaftliches Missmanagement vorgeworfen. Doch hatten die Muslimbrüder in ihrem ersten Regierungsjahr überhaupt schon ein klares ökonomisches Programm, an welchem man die Organisation messen kann?

Die Agenda der Muslimbrüder nennt sich Al-Nahda (Renaissance) und fordert einen Umbau aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auf der Basis islamischer Werte. Dieser Bezug auf die islamische Identität verleitete westliche Beobachter lange zu der Vermutung, die Muslimbrüder stünden dem neoliberalen Kapitalismus des frühen 21. Jahrhunderts feindselig gegenüber.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Muslimbrüder sind schon lange im neoliberalen Mainstream angekommen. Ihre wirtschaftspolitische Vision steht nicht für eine Abkehr von der neoliberalen Politik des alten Regimes. Die ökonomische Agenda der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder ist ein explizites Bekenntnis zu freien Märkten und wirtschaftlicher Konkurrenz - religiös belegt mit dem Hinweis, der Koran fordere freie Märkte. Das wirtschaftliche Programm der Muslimbrüder fordert einen Rückzug des Staates aus sämtlichen Wirtschaftszweigen und eine treibende Rolle des Privatsektors bei Schlüsselprojekten zur Entwicklung des Landes.

Der Autor

Martin Hoffmann hat in Leipzig Arabistik, Indologie und Soziologie studiert, lebt seit 2012 in Kairo. Er beschäftigt sich mit den politischen Umwälzungen in der Region, wirtschaftlichen und ökologischen Fragen. 

Wohlfahrt statt Umverteilung

Religiöse Spenden an die Armen - »Zakat«, eines der fünf Grundgebote im Koran - sollen in eine staatliche Stiftung geleitet werden, welche die Verteilung an die Unterschichten gewährleistet. Diese Stiftungen ähneln den privaten Wohlfahrtseinrichtungen in angelsächsischen Ländern, wo der Staat die Versorgung der Unterschichten auf das Minimalste beschränkt. Entscheidend ist: Diese Wohlfahrtseinrichtungen stehen für individuelle Akte der Großzügigkeit - jedoch nicht für eine strukturelle Umverteilung zugunsten der Unterprivilegierten. Bei einem Blick auf die Eliten der Muslimbrüder wird plausibel, dass Umverteilung nicht notwendigerweise Teil ihrer Agenda ist.

Der nach verbreiteten Einschätzungen derzeit mächtigste Mann der Organisation ist Khairat al-Shater, ein Geschäftsmann, der über Jahrzehnte ein vielseitiges Business-Imperium aufgebaut hat. Die Spanne seiner Geschäftsbereiche reicht von Möbeln, Textilien, Traktoren und petrochemischen Erzeugnissen bis hin zu Management Consulting. Shater gilt als Anführer des konservativen Flügels innerhalb der Muslimbrüder. Etliche ihm loyal ergebene Mitglieder der Muslimbrüder arbeiten in seinen Firmen.

Shater saß unter Ex-Präsident Hosni Mubarak etliche Jahre im Gefängnis und wurde erst kurz nach der Revolution zusammen mit seinem Businesspartner und Mitinsassen Hassan Malek aus dem Gefängnis entlassen. Zugleich wurden Verfahren gegen Mitglieder der alten, regimetreuen Business-Clique um Mubaraks Sohn Gamal Mubarak eingeleitet.

Der Wandel der Business-Chefs des Landes von Mubaraks Günstlingen zu dem engen Kreis reicher Geschäftsleute innerhalb der Muslimbrüder stand für einen Wechsel der Eliten - jedoch nicht für einen Wandel in der ökonomischen Vision.

So erklärte Malek in einem Interview mit dem Wirtschaftsdienst Bloomberg, die von Mubaraks ehemaligem Minister für Handel und Industrie Rashid Mohamed Rashid gemachte Politik sei prinzipiell richtig gewesen. Während seiner Amtszeit war Rashid für die Privatisierung des Industriesektors und ausländische Direktinvestitionen verantwortlich.

Der Politikprofessor Joshua Stacher von der Kent State University nennt erfolgreiche Geschäftsleute wie Shater und Malek »das neoliberale Gesicht der Organisation«. Sie haben keine Berührungsängste mit dem Westen. Etliche von ihnen, wie auch der gestürzte Präsident Mohammed Mursi selbst, haben in den USA studiert.

»Strategische Partnerschaft« mit USA

Nach Analyse von Ashraf al-Sherif, Politikprofessor an der American University in Kairo, versucht Shater, einen Kreis aus »neoliberalen Technokraten« um sich zu bilden, welche im Westen und bei internationalen Investoren Vertrauen erwecken sollen. »Sie sprechen gutes Englisch, tragen gute Anzüge und beherrschen die internationale Business-Sprache.«

In einem Interview mit dem New Yorker Wall Street Journal kurz nach Amtsantritt Mursis im Juni letzten Jahres nannte Shater eine »strategische Partnerschaft« mit den USA als eine der außenpolitischen Prioritäten. Dies werde nicht nur der Anerkennung der Muslimbrüder zugute kommen, sondern auch den Zugang zu den internationalen Kreditmärkten erleichtern.

Die Kombination aus sozialem Konservatismus und neoliberaler wirtschaftlicher Ideologie unter den Muslimbrüdern veranlasste den amerikanischen Journalisten Avi Asher Schapiro gar zu der Aussage, die Gruppe habe im Grunde mehr Gemeinsamkeiten mit der Republikanischen Partei in den USA, als mit den Djihadisten von Al Qaida. Der 27-jährige Yasser Hashem ist Mitglied der Jugendorganisation der liberalen Partei »Freie Ägypter« und der Meinung: »Die USA unterstützen die Muslimbrüder, weil sie mit ihnen einfacher ihre Interessen in der Region wahren können.«

»Guardian«-Autorin Rachel Shabi geht davon aus, dass die Muslimbrüder im festgefahrenen ägyptischen Machtkampf vor dem Sturz Mursis die beste strategische Wahl für die USA gewesen seien - weil sie das gegenwärtige ökonomische Machtgefüge nicht in Frage stellen.

Dies machte sie laut Shabi in westlichen Sicherheitskreisen akzeptabel. Doch auf der ägyptischen Straße schwand ihre Popularität rasch, vor allem nachdem sich die ökonomische Lage verschlechterte. Der Kurs des ägyptischen Pfundes rutschte stetig, während die Inflation galoppierte. Vor allem Grundnahrungsmittel wurden teurer. Ägypten war schlichtweg nicht mehr in der Lage, genügend Benzin und Gas auf dem Weltmarkt einzukaufen. Noch gibt es Weizenreserven, die einen Preisauftrieb verhindern.

Hassan Malek, einer der ökonomischen Vordenker der Muslimbrüder, studierte während seiner Zeit im Gefängnis den ökonomischen Erfolg der asiatischen »Tigerstaaten«. Vor allem Malaysia betrachtete er als Modell für Ägypten.

Mehrfach reisten führende Muslimbrüder wie Khairat al-Shater nach Mursis Amtsantritt auch an den Persischen Golf, um für Investitionen zu werben. Doch in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten betrachtet man die Muslimbrüder mit Misstrauen. Im Kalkül der Herrscher am Golf war eine islamistische Organisation, die ihre Legitimität durch einen demokratischen Wahlsieg begründete, eine Gefahr für den eigenen Machtanspruch.

So blieb der erhoffte Boom im neoliberalen Sinne während Mursis Amtszeit aus, auch ausländische Direktinvestitionen, die in den späten Mubarak-Jahren der Clique um Präsidentensohn Gamal zu sagenhaftem Reichtum verhalfen, gab es so gut wie nicht mehr. Die bedeutende Einnahmequelle des Tourismus schrumpfte auf ein Rekordtief.

Die Devisenreserven des Landes stürzten von 34 Milliarden zum Zeitpunkt der Revolution auf heute knapp 15 Milliarden Dollar. Einzig die Finanzspritzen aus Qatar und der Türkei, welche in ihren eigenen regionalen Ambitionen früh auf die Muslimbrüder als Verbündete setzten, verhinderten größere Versorgungsengpässe bei Benzin und Gas.

In dieser klammen finanziellen Lage schien ein Kredit des Internationalen Währungsfonds, der seit der Revolution in Verhandlung ist, der einzige Strohhalm zu sein. Doch der Kredit war an wirtschaftliche Strukturanpassungsmaßnahmen gebunden, die vor allem die Kürzung von Subventionen mit sich gebracht hätten. Deren Konsequenzen waren Mursi wohl bewusst: Sie hätte dadurch nicht nur weite Teile der Unterschichten, deren Grundnahrungsmittel vom Staat subventioniert werden, gegen sich aufgebracht, sondern auch mächtige Interessengruppen in der Wirtschaft. Diese profitieren von subventionierten Preisen für Elektrizität und Gas für ihre Fabriken.

Herausforderungen nicht erkannt

So führten der Machkampf im Inneren und das Ausbleiben von Investitionen von außen zu einer ökonomischen Stagnation, die neues explosives Potenzial freisetzte. Das Durchschnittsalter in Ägypten ist 25 Jahre, und jährlich drängen 700 000 Menschen neu auf den Arbeitsmarkt. Zwei Jahre wirtschaftlicher Stagnation kann sich das Land nicht leisten. Die Organisation »Budget and Human Rights Observatory« schätzt, dass bereits in den späten Mubarak-Jahren als direkte Folge der Privatisierungspolitik mindestens drei Millionen Menschen ihre Arbeit verloren. Indirekt betrifft das bei der durchschnittlichen Familiengröße in Ägypten 15 bis 20 Millionen Menschen.

Im wirtschaftlichen Bereich versäumten es die Muslimbrüder, eine Vision zu entwickeln, welche angesichts der großen Herausforderungen, vor denen das Land steht, gebraucht wird. Stattdessen setzten sie auf Kontinuität und damit Fortführung der verfehlten neoliberalen Politik Mubaraks.

Der unabhängige ägyptische Ökonom Reda Issa sagte dazu bereits im April: »Wir sind der Ansicht, dass Mubaraks Wirtschaftspolitik nach der Revolution hätte korrigiert werden sollen. Wenn wir das selbe Spiel spielen, bekommen wir die selben Resultate.«

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