Vom Wert des Geheimnisses

Mario Vargas Llosa hat mit »Alles Boulevard« ein herrlich arrogantes Buch geschrieben

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 7 Min.

Man kann über Mario Vargas Llosas Essayband urteilen wie die zweitgrößte spanische Tageszeitung, »El Mundo«: »Brillant, kühn und extrem kontrovers«. Man kann aber auch der Meinung sein, da befehde ein alter Mann die Kultur der Gegenwart, in der er nicht mehr die Rolle spielt, die er glaubt, sie stünde ihm zu. Letzteres empfehle ich nicht. Der geringste der Gründe, die dagegen sprechen, ist der, dass es eine ungeheuerliche Respektlosigkeit gegenüber einem Geistesarbeiter wie Mario Vargas Llosa wäre, und das müsste man dann tatsächlich kulturlos nennen. Einen weiteren Grund, den Band nicht abzutun, liefert die Qualität der Essays: Es handelt sich erwartungsgemäß um kenntnis- und gedankenreiche, fein geschliffene, auch wortgewaltige Texte. Der gewichtigste Grund allerdings, Vargas Llosas Gedanken ernst zu nehmen, besteht darin, dass schon zu lange als inkompetent und hoffnungslos altmodisch gilt, wer auch nur den Versuch unternimmt, die anhaltende Feier dessen, was heute unter Kultur subsumiert wird, zumindest infrage zu stellen.

Ein Essay ist ein Essay, aber diese Essaysammlung eine geballte Faust. Die zuschlägt. Der 77-jährige gebürtige Peruaner, Literaturnobelpreisträger, schreibt an gegen die Banalisierung der Kultur, gegen eine Kultur des Spektakels, wie er sie in unseren Tagen wahrnimmt. Er warnt: Das, was wir im herkömmlichen Sinne mit dem Wort Kultur verbinden, sei im Verschwinden begriffen.

In dem Text, der den Band eröffnet, legt er dem interessierten Leser zunächst dar, wie sich das Verständnis von Kultur in den letzten 100 Jahren gewandelt hat. War sie - in diesem Fall die Hochkultur - bei T.S. Elliot noch die Kultur einer Elite, die, um ihren hohen Wert zu bewahren, dies auch bleiben sollte (Notes Towards the Definition of Culture, 1948), so griff Georg Steiner gut 20 Jahre später Elliots Auffassung an (In Bluebeard’s Castle. Some Notes Towards the Redefinition of Culture, 1971). Steiner, zutiefst beunruhigt darüber, dass Elliot kurz nach dem Zweiten Weltkrieg über Kultur habe schreiben können, ohne sie mit den beiden Weltenbränden des Jahrhunderts und dem Holocaust in Beziehung gebracht zu haben, hielt dem Dichter entgegen: »Was hat denn der hohe Humanismus schon getan für die unterdrückte Masse der Gemeinschaft? Wozu war er gut, als die Barbarei hereinbrach?« Mehr noch: Mit ihrer heimlichen Sehnsucht nach dem großen Knall, nach Gewalt und Chaos habe die europäische Kultur diese Blutbäder provoziert. Laut Steiner sei der Mythos zerstört, wonach Humanismen humanisieren.

Auch auf Guy Debord (La Société du Spectacle, 1967) nimmt Vargas Llosa Bezug. Ihm stimmt er insofern zu, als die Entfremdung das Leben der Gesellschaften beherrsche und die Waren nun die Herren sind, denen die Menschen dienen. Was dazu führe, dass das Authentische durch das Künstliche und Falsche ersetzt werde. Bei Gilles Lipovetsky und Jean Serroy (La Culture-monde. Résponse à une société désorientée, 2008) hebt er hervor, was die Autoren über die Massenkultur in der globalisierten Welt feststellten: Anders als die elitären Avantgarden wolle die Massenkultur einem größtmöglichen Publikum Neues und möglichst vielen Konsumenten Abwechslung bieten. Es gehe darum, zu unterhalten, den Menschen Vergnügen zu bereiten, eine allen zugängliche Flucht zu ermöglichen, ohne irgendeine Bildung oder kulturelle Orientierung vorauszusetzen. Was die Massenkultur erfinde, sei nicht mehr als eine in Massenkonsumartikel transformierte Kultur. Dabei dominierten das Bild und der Ton - zum Nachteil des Wortes.

Schließlich der Bogen zu Frédéric Martel (Mainstream, 2010), der in seiner weltumspannenden Reportage über die globalisierte Kultur nicht von Büchern (außer von Dan Browns »Da Vinci Code«), nicht von bildender Kunst, Musik oder Tanz, Philosophie oder humanistischer Bildung sprach, sondern ausschließlich von Filmen, Fernsehsendungen, Videospielen, Mangas, Rock-, Pop- oder Rapkonzerten, von Videos und Tablets und der »Kreativwirtschaft«. Martel sah positiv, dass der Mainstreamkultur einer kleinen Minderheit die Kulturhoheit entrissen, die Kultur demokratisiert wurde. Anders Vargas Llosa: Was für Martel Errungenschaft ist, bedeutet für ihn Verfall.

Wo alles Kultur ist, sei nichts Kultur. Denn nicht alles, was nun als Kultur gelte, sei gleichwertig. Ein Befund, den er wagt, auch auf die verschiedenen Kulturen der Erde auszuweiten. Der Wert von Kultur werde mit ihrem Preis verwechselt, die vermeintliche Demokratisierung sei in Wirklichkeit Trivialisierung, Skandal versessenes Gedröhne, flaches Entertainment. Er macht diese Trivialisierung in vielen Lebensbereichen aus: in der Politik, der Religion, der Kunst, dem Journalismus, der Bildung, der Erotik. Sein Wort für den Verfall: »Frivolität« - eine »Art, die Welt zu verstehen, wonach alles Schein ist, also Theater, also Spiel und Vergnügen«.

Die Position, die Vargas Llosa vertritt, ist eine konsequent konservative. Bevor allerdings der Linke reflexhaft ruft »Pfui Teufel!«, sollte er dem Konservativen zumindest eine Chance geben. Er hat sie verdient. Denn Konservatismus ist a priori nichts Schlechtes. Gäbe es nicht die Beharrenden, diejenigen, die bewahren wollen, dann hätten die Progressiven keinen Gegenpol, dann wären sie ungebremst, dann würde unsere Erde vor lauter Erneuerung nur noch Pirouetten drehen. Wobei das Progressive ja oft nur das zeitlich Fortschreitende, nicht unbedingt ein Fortschritt ist. Deshalb gehören das Konservative und das Progressive zusammen, damit sie miteinander ringen, um sich gegenseitig zu korrigieren. Vielleicht ist es das, was wir lernen können.

Das hätte Konsequenzen auch fürs Feuilleton. Zwar scheint die alte, die Zeit überdauernde Kultur desavouiert, aber ist sie das wirklich? Können Humanismen tatsächlich nicht humanisieren? Kann dies denn die Popcornkultur der Gegenwart? Sie hat ihren widerständigen Wert noch nicht unter Beweis stellen müssen. Überdies hat die alte humanistische Kultur ja nicht bei allen Menschen versagt, wofür neben vielen anderem die Brüder Mann, Bertolt Brecht, Stefan Zweig stehen. Absolute Ansprüche tragen ihr Scheitern von vorn herein in sich, sie taugen nicht, jene alte Kultur zu delegitimieren.

Kann man sich also vorstellen, dass die Feuilletons nicht mehr über jedes mickrige Stöckchen springen, das der Zeitgeist ihnen hinhält? Dürfen die kommerziellen Provokationen eines Rappers ignoriert, statt ausführlich kommentiert zu werden? Ich fürchte, nein. Denn die »Erziehung« des breiten Publikums ist bereits weit fortgeschritten. Dürfen massenkulturelle Phänomene zugunsten des Wortes wieder zurückgedrängt werden? Nein, zu sehr sind die klassischen Zeitungen, bei Strafe ihres Untergangs, auf junges Publikum angewiesen. Müssen Feuilletons Agenturmeldungen von der Art, dass ein Schauspieler nach Berlin zieht, eine junge Aktrice sich wünscht, in einem Science-Fiction-Film mitzuspielen, oder dass ein Bildhauer beim Kirschenpflücken von der Leiter fiel, drucken? Das, zum Glück, müssen sie nicht. Noch nicht. Angesichts des erstaunlichen Mangels an tatsächlich Mitteilenswertem und dem Hang der Tageszeitungen zu leicht verdaulicher Kleinteiligkeit könnte sich das in Zukunft ändern.

Das Ringen des Konservativen mit dem (vermeintlich) Progressiven - Vargas Llosa zelebriert es in jedem seiner scharfsinnigen Essays. Man muss seine Positionen nicht teilen. Sie sind teilweise rabiat, das Buch ist, wie gesagt, eine Kampfschrift. Aber natürlich trifft er ins Schwarze, wenn er zu Felde zieht gegen die Libertins, die unter dem Deckmantel der Freiheit die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit schleifen. Trifft er auch ins Schwarze, wenn er die Veröffentlichungen geheimer US-Depeschen durch Wikileaks-Gründer Julian Assange geißelt? Zu wenig Neues, zu wenig Wesentliches enthielten sie, zu viel belanglosen Klatsch und Tratsch, der lediglich die Neugier befriedige. Nicht jeder müsse alles wissen, es gäbe das Recht auf Geheimnis, es gehöre zur Diplomatie.

Man darf sich fragen, ob Vargas Llosa das auch nach den Enthüllungen Edward Snowdens so geschrieben hätte. Das Recht auf Geheimnis hat nämlich auch jeder Einzelne. Allerdings, hat man Vargas Llosas Texte gelesen, fragt man sich noch etwas anderes: Haben wir unser Recht auf Geheimnis nicht längst selbst ausgehebelt? Woher kommt der Exhibitionismus der westlichen Gesellschaften? Wie viele Mitmenschen drängt es heute, ihr Privates mit der Öffentlichkeit zu teilen? Via Handy in der vollbesetzten Bahn, via Talkshow, via soziale Netzwerke. Wer seine Geheimnisse quasi auf Postkarten, die jeder lesen kann, um die Welt schickt, erwartet genau das: dass man sie zur Kenntnis nimmt. Doch was heißt hier Geheimnisse? Wie jämmerlich muten die öffentlich zur Schau gestellten Banalitäten an - von »Die Bahn ist voll, ich schwitze« bis »Ich bin in fünf Minuten zu Hause«. Was ist geschehen, dass Leute heute nicht mehr mit sich allein sein können?

Solche Überlegungen haben, es sei ausdrücklich betont, keine politische, sondern eine kulturelle Dimension. Um die geht es Vargas Llosa. Ach, wie herrlich arrogant, herrlich politisch inkorrekt, herrlich denkbefeuernd sind seine »altmodischen« Essays.

Mario Vargas Llosa: Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst. Suhrkamp, 226 S., geb., 22,95 €.

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