Rechtmäßig und sittlich

Todesstrafe - Streit im Reichstag: Lasker kontra Bismarck

  • Rosemarie Schuder
  • Lesedauer: 5 Min.
Am 28. Februar 1870 begann um 12.15 Uhr die 11. Sitzung des Reichstags des Norddeutschen Bundes. Auf der Tagesordnung stand die zweite Beratung über den Entwurf eines Strafgesetzes, die »Spezialdiskussion« zur Todesstrafe. Auch die Mitglieder des Bundesrates hatten sich auf ihren Plätzen eingefunden, unter ihnen der Kanzler und Präsident des preußischen Staatsministeriums Graf von Bismarck-Schönhausen, in seiner Nähe der Kriegsminister von Roon und der Justizminister Dr. Leonhard. Der Abgeordnete Dr. August Reichensperger legte Wert darauf, als erster zu Wort zu kommen. Der in Koblenz geborene Jurist gehörte als Katholik zu den Mitbegründern der Zentrumspartei. Er bezeichnete die Beratung um Leben und Tod als eine ernste und feierliche Aufgabe und sprach von der Verantwortung, die »Rechtmäßigkeit und Sittlichkeit der Todesstrafe« zu erkennen. Eigentlich lag seine Vorliebe auf einem ganz anderen Gebiet als der Juristerei. Seine Veröffentlichungen geben darüber Aufschluss: »Die christlich-germanische Baukunst« und »Fingerzeige auf dem Gebiete der christlichen Kultur«. Jetzt gab er sich unentschlossen, ob er für oder gegen die Todesstrafe stimmen solle, er sprach vom Rechtsbewusstsein des Volkes, das zu berücksichtigen sei, und meinte am Ende, er würde sich bei der Abstimmung der Mehrheit anschließen. Als hätte der Vorredner ihm das Stichwort geliefert, begann der Abgeordnete vom linken Flügel der nationalliberalen Partei, Eduard Lasker, mit einem eleganten Ausfall: Wenn er den Herrn Abgeordneten recht verstanden habe, gebühre ihm Lob für seine Absicht, je nach der Mehrheit für oder gegen die Todesstrafe zu stimmen. Er griff Reichenspergers undeutliche Version vom letztlich maßgebenden »Rechtsbewusstsein des Volkes« auf, machte aber deutlich, dass der Gesetzgeber beim Erlass von Gesetzen das Volk nicht mit »Zwangswohltaten« beglücken dürfe. Lasker wollte gegen die Todesstrafe auch jene Konservativen gewinnen, die sich als unnachgiebige Befürworter gern auf das Alte Testament stützten. So ging er weit zurück in die Geschichte und erklärte, wie »ein Kulturvolk in verhältnismäßig früher Zeit zur tatsächlichen Abschaffung der Todesstrafe« gelangte, wie es sich »über die Barbarei ihrer Gesetzgebung hinweggeholfen hat. Diese Nation ist die jüdische«. Lasker, dessen Großvater ein Rabbiner war, konnte annehmen, dass viele nicht wussten, wie Schriftgelehrte in einer Bibelstelle die Möglichkeit für die Abwendung der Todesstrafe gefunden hatten. Und er fragte seine Zuhörer, ob sie glaubten, die Existenz des Staates werde bei der Abschaffung der Todesstrafe gefährdet. Er warnte vor einem Beharren auf der alt hergebrachten Einstellung: »Auf Mord steht Tod.« Sodann erteilte er seinen Zuhörern, vor allem den Herren des Bundesrates, eine Lehre über das Volksbewusstsein: »Wenn die Gesetzgebung erst wartet, bis das ganze Volk so eingenommen ist gegen eine bestehende Institution, dass es diese als eine Schmach und ein Unrecht erkennt, dann gehören wir nicht zu den Besten, sondern zu den Schlechtesten des Volkes.« An diesem Tag legte Lasker vor den Mitgliedern des Bundesrates und den Abgeordneten des Reichstags des Norddeutschen Bundes sein Bekenntnis ab: In jedem einzelnen Menschen verkörpere sich die ganze Welt. Wenn der Einzelne sich bessere, so betreffe diese Besserung auch die ganze Welt. »In jeder einzelnen Person spinnt sich ein Zweck der göttlichen Vorsehung vom ersten Tag der Geburt bis zum Todestage ab, und dieser Zweck ist im höchsten Grade erfüllt, wenn er mit der Klärung des Gemütes, mit der Besserung des sittlichen Prinzips begleitet gewesen ist. Ein solches Leben ist Gott wohlgefällig, abgesehen von allen einzelnen Taten, welche das Leben verdunkeln. Und nun frage ich Sie, meine Herren, welches Recht haben Sie, Ihre Hand auszustrecken, der Vorsehung den Faden abzuschneiden, indem Sie befehlen: Jetzt muss der Mann sterben!« Und mehr noch, Lasker sprach seine Hoffnung aus: »Die Abschaffung der Todesstrafe wird auch eine ernste Mahnung für die Nationen sein, ob denn überhaupt mit Menschenleben das Recht erkauft werden muss, ob nicht irgendein Ersatz zu finden ist, wonach selbst Streitigkeiten unter Nationen anders zum Austrag gebracht werden, als durch Menschenleben.« Der Wunsch, Kriege zwischen den Völkern zu vermeiden, erntete erbärmliches »Lachen rechts«. Lasker entgegnete: »Meine Herren ... Solange Sie nicht in der Heimat die unverbrüchliche Achtung vor dem Leben des Menschen hergestellt haben, berauben Sie sich eines der besten Mittel für den Fortschritt in den Beziehungen der Nationen untereinander.« Die Lachenden fühlten sich dem Redner überlegen. Als Eingeweihte wussten sie von den Vorbereitungen zum Krieg gegen Frankreich, der wenige Monate später begann. Ihre heitere Stimmung beruhte auch auf ihrer Kenntnis von Maßnahmen, die Stärke der Armee auszubauen; dazu gehörte die Ausrüstung der Infanterie mit neuen, leichteren Gewehren, aus denen schneller als bisher gefeuert werden konnte. Lasker rief am Ende den Abgeordneten zu, sie sollten ein moralisches Zeugnis ablegen und der Welt verkünden, die Todesstrafe sei nicht mehr gerechtfertigt, sie sei »eine Sünde vor Gott und den Menschen!«. Nach dieser Rede beantragten zwei Abgeordnete Vertagung, der Antrag wurde angenommen, die Sitzung endete um 16.30 Uhr. Am nächsten Tag, dem 1. März 1870, zeigte sich bei der Abstimmung, welche Wirkung Laskers Rede im Reichstag des Norddeutschen Bundes ausgeübt hatte. 118 Abgeordnete lehnten die Todesstrafe ab, 81 gaben ihre Zustimmung. Doch die Verhandlung über das Strafgesetz war noch nicht beendet, denn im Bundesrat herrschte die einhellige Meinung, die Todesstrafe müsse beibehalten werden. Zwei Monate später stand die Beratung über das Strafgesetzbuch erneut auf der Tagesordnung. Am 23. Mai 1870 hielt Bismarck vor dem Reichstag seine Rede. Er setzte sich für die Todesstrafe ein und sprach von einer Übereinstimmung mit dem »gesunden Sinn unserer Bevölkerung« und begründete sein Eintreten für die Todesstrafe mit der Verteidigung »unserer Grundprinzipien in Bezug auf die Einheit, die wir in Deutschland zu schaffen haben«. Er beschwor »unsere Berechtigung«, »hart zu sein und mit eisernem Schritt zu zermalmen, was der Herstellung der deutschen Nation in ihrer Macht und Herrlichkeit« entgegenstehe. Wenige Abgeordnete entschieden die Abstimmung. Lasker musste erleben, dass 16 Abgeordnete seiner Partei sich nach Bismarcks Rede für die Todesstrafe einsetzten. August Bebel schrieb in seinen Erinnerungen: »Der Reichstag ... stimmte jetzt auf Drängen und Drohen Bismarcks für dieselbe, und zwar mit 127 gegen 119 Stimmen. Der einzige sächsische Abgeordnete, der für die Todes-strafe eintrat, war Dr. Hans Blum, der Sohn des im Herbst 1848 in der Brigittenau bei Wien erschossenen Robert Blum. Als Blum sein Ja für die Todesstrafe gab, antworteten wir auf der äußersten Linken mit einem kräftigen Pfui.«
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