Großer Jubel

Berliner Philharmoniker musizierten

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.
Ein Gesetz. Ein Gebet. Eine Beichte. Schlüsselwerke von Webern, Strawinsky und Tschaikowski«. So überschrieben war das jüngste Philharmonische Konzert unter Staatskapellenchef Daniel Barenboim (Foto: AFP). Du lieber Gott, was für ein Unfug. Der Beichtstuhl ließ grüßen, das Blasen von Weihrauch. Das haben die Werke nicht verdient, selbst die schlechten nicht. Nicht minder verschroben, der Eindruck will nicht verfliegen, das Gros des Publikums, das offenkundig noch der abgedroschensten Flachheit akklamiert. Die meisten Besucher sind über die sechzig, was nicht gegen die Besucher geht. Aber wo bleibt im Gral die umgestaltende Macht der Jugend? Verzückte - die Beschimpfung sei ausnahmsweise erlaubt - Tanten und Onkels der höheren Einkommensklasse (Preis für den Normalplatz: 70 Euro) bevölkern den Tempel. Die Zwanzigjährigen dürfen auf den Billigplätzen lauschen. Kultureller »Glanz«, Kraft der Musik? Gut erfundene Schnurren von gestern, als die Zukunft auch nicht viel besser war. Nun, die allgemeine Krise schlägt überall hinein. Noch in die Einzelheit der Faktur. Zu beobachten an der Wiedergabe von Anton Weberns Konzert 0p. 24, einem Schlüsselwerk. Diese Musik für neun Instrumente ist nicht ganz so kurz wie die Minutenstücke des frühen dodekaphonischen Webern, aber insgesamt schwieriger zu musizieren. Die zwölftönige Welt des Kammerstücks ist tückisch. Ein einzelner falsch gespielter Ton kann das Ganze des Satzes ins Schwimmen bringen (freilich nicht nur bei diesem Stück). Das Missgeschick passierte im 3. Satz, Tempo »sehr rasch«. Darin wechseln die Metren schwindelerregend und aufs Knappste gebrachte Marcatogesten geben den Ton vor. Den Umschlag provozierte ein missratenes Pizz. der Bratsche derart, daß plötzlich der ganze Satz ins Wackeln kam. Barenboim war so gerührt und erregt darüber, dass er, was selten ist, den Satz wiederholen ließ. Und siehe da, es ging viel besser. Man muss die falschen Dinge nicht auf sich beruhen lassen. Mit Gebet und Beichte hat op. 24 nun gar nichts zu tun. Falsch diese Etikettierung auch bei der Psalmensinfonie Strawinskys. Psalm ist ungleich Beichte, und Gebet ist nicht gleich Gesetz. Hier geht es zuerst um Musik. Strawinsky vernäht alttestamentarische Texte mit Bachschen Techniken und Formen. Falsch, das Werk neoklassizistisch zu nennen. Im monumentalen Mittelteil rumort das Blech (ergänzt um zwei percussive Klaviere, Solopauke, große Trommel usw.) wie im frühen »Sacre du Printemps«. Das Ritual der Wiederholung immergleichen Materials rahmt etwa die Zeile »Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien«. Der Teil wirkt geradezu rebellisch. Eingearbeitet auch eine Art Anti-Händel-Halleluja. Der Chor kommt leise aus der Tiefe, durch dunkle Streicher gestützt. Es gibt kein Grund zum Jubeln. Großartig der Rundfunkchor, auf den Bänken viele junge Gesichter, einstudiert von einem der versiertesten Chorirektoren, die hier zul Lande im Amt sind: Eberhard Friedrich von der Staatsoper. Vollends verquer zum oben zitierten Konzerttitel die 5. Sinfonie von Tschaikowski. Dass der große Daniel Barenboim dieses schlechte Stück auswendig dirigierte (selbst nichtigste Ereignisse versah er mit Einsätzen), mochte die Hörer vielleicht erstaunen, dass er sich aber dem schmalztriefenden, mit Signalen aufgepumpten Schinken inbrünstig hingab, er kroch fast unter die vor ihm postierten Bratschen und Cel...

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