nd-aktuell.de / 17.12.2005 / Politik

Tumult vor dem Gericht in Istanbul

Prozess gegen Orhan Pamuk vertagt

Jan Keetman, Istanbul
Der Prozess gegen den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk wegen »Herabsetzung des Türkentums« begann am Freitag mit Tumulten und einer Verschiebung.
Orhan Pamuk hatte in einem Zeitungsinterview geäußert, in der Türkei seien eine Millionen Armenier und 30 000 Kurden umgebracht worden. Dafür will ihn die Staatsanwaltschaft bis zu drei Jahre ins Gefängnis stecken. Doch als Pamuk seine Äußerung tat, galt noch nicht das neue, erst in diesem Jahr eingeführte Strafrecht. Nach altem Recht erfordert ein Prozess wegen »Herabsetzung des Türkentums« eine direkte Erlaubnis des Justizministers. Mit dieser Argumentation schob das Gericht das heiße Eisen zunächst der Regierung zu. Justizminister Cemil Cicek aber behauptet, die Prozessakten lägen ihm noch nicht vor. Also werde die Fortsetzung des Prozesses auf den 7. Februar vertagt, entschied das Gericht am Freitag. Orhan Pamuks Anwalt rügte die Verschleppung des Verfahrens. Sein Mandant stehe in der Zwischenzeit unter psychischem Druck. Davon war in den Gängen des Gerichts und auf der Straße einiges zu spüren. Eine Gruppe, die das Zeichen der rechtsradikalen »Grauen Wölfe« zeigte, brüllte Parolen wie »Vaterlandsverräter« und »gekaufte Intellektuelle«. Als Prozessbeteiligte und Besucher das Gericht verließen, spitzte sich die Situation zu. Die Mitglieder zweier Delegationen des Europäischen Parlaments wurden beschimpft und insbesondere die Parlamentarierinnen in englischer Sprache beleidigt. Als der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir mit einem Journalisten sprach, lief ein Anwalt der Nebenkläger zu umstehenden Polizisten und forderte sie vergeblich auf, das Interview zu unterbrechen. Als sich schließlich Orhan Pamuk durch das Gedränge schob, sahen die Rechtsradikalen die Zeit gekommen, mit Eiern auf Parlamentarier und Journalisten zu zielen. Auf das Auto, das Pamuk wegbrachte, schlugen sie mit Fäusten ein. Ein Mann sprang vor den Wagen, um dessen Abfahrt zu verhindern. as Auto und versuchte so die Abfahrt zu verhindern. Im Namen der kemalistischen »Patriotischen Bewegung« verurteilte der Maler Bedri Baydam die Äußerungen Orhan Pamuks als »unbewiesene Behauptungen im Stile gewisser westlicher Kreise«. Bedri Baydam sprach sich jedoch gegen die von vielen vehement geforderte Bestrafung Pamuks aus. Der Vorsitzende Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament, Daniel Cohn-Bendit, forderte die Änderung des Paragrafen 310, der gegen Pamuk angewendet wird. Auf den Einwand, dass dieser Paragraf gerade erst auf Wunsch der EU geändert worden sei, entgegnete Cohn-Bendit: »Dann muss man ihn halt noch mal ändern und später eventuell noch mal.« Der armenische Journalist Hrant Dink erklärte nach dem Prozess: »Orhan Pamuk ist populär, andere "Orhans ohne Stimme" werden nach den gleichen Paragrafen abgeurteilt.«