Wahrheitssuche vor Preisschildern

Botho Strauß und sein jüngster Essay über den Außenseiter

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Botho Strauß hat im »Spiegel« einen Essay über den Außenseiter geschrieben. Darin der Gedanke, es habe für den »Transport der Kultur« einst eine »klassische Proportion« gegeben; diese habe auf der »substanziellen Trennung der vielen oder Ausgeschlossenen von den wenigen oder Einbeschlossenen« beruht. »Die vielen verdünnen das Gut, jene wenigen aber erhalten es.« Das ist Aufruf zur Avantgarde und Befeuerung des Elitären. Ist es also reaktionär - gemäß des politisch üblichen Reflexes?

Das politisch Übliche möge draußen bleiben. Es ist das Übel. Es ist genau jenes Steuerungssystem, das Denken zu verhindern sucht, weil Denken bekanntlich alle Systeme aus dem Rhythmus wirft.

Der Gedanke, den Strauß ausspricht, richtet sich nicht gegen Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit, schon gar nicht gegen sozial gesicherte und kulturell befestigte Würde durch alle Stände hindurch - aber es ist sehr wohl ein Satz gegen jenen prometheischen Hochmut der Menge, der es in der Geschichte zu verhängnisvollen Ehren brachte - indem er Avantgardismus aus der Welt der Phantasie herunterriss und ihn als politische Realität vergewaltigte. Ein Machbarkeits-Hochmut der Kollektivismen, die Intelligenzfeindlichkeit oft genug zu geistigem Neuerertum erklärten und Ästhetiken des Drills und der ideologischen Verkürzung zur Pädagogik erhoben.

Unleugbar, dass der Versuch, die Köchin möge den Staat regieren, einst die Suppenküchen in Teilen der Welt ausrottete, so wie man Seuchen endlich ausrottet - aber am Ende schmeckte selbst so ein Staat immer weniger, und mehr und mehr Esser sagten von der reichlich vorhandenen Suppe, sie sei ihnen eingebrockt worden. Köchin zur Küche! Der Avantgardist nach Arkadien!

Strauß schreibt von einer »Aristokratie des Beisichseins« und stellt sich gegen einen gegenwärtigen sozialen Frieden, der von einer »gleichgültigen Mehrheit« getragen wird. Er weiß sehr genau, welchen Fehler er damit inmitten des doch so weit Gebrachten der westlichen Welt (es geht uns gut!) begeht: »Widerspruch zum Guten gehört sich nicht.« Aber das Humane dieser Gesellschaft scheint sich doch tatsächlich darin zu erschöpfen, dass sich der Mitläufer endlich Demokrat nennen darf.

Natürlich ist der Mitläufer auch Sachwalter jener ausbalancierenden Trägheit, die eine Gesellschaft erst lebbar macht, indem das politische Extreme in der Mitte ausgebremst wird. Aber was ist aus dieser Mitte geworden? »Hat uns die Macht des Vielfältigen, die bunte Liste der tausend Spleens und Richtigkeiten nicht unfähig gemacht, einem wie auch immer imaginären Ganzen gegenüber jene exzentrische oder avantgardistische Stellung zu beziehen, durch die es erst Gestalt gewinnt?«, fragt der Schriftsteller und Hanser-Verleger Michael Krüger in einem Text über Strauß und beschwört ebenfalls dessen Außenseiter, der sich der »Wir-Masse« entzieht. Wo die Verwahrlosung nicht von den Rändern kommt, sondern aus Zentren, wo sich geschwätzig, gestylt das Selbstbewusstsein prostituiert und wo das Tonangebende mit dem Populären gleichzieht.

In diesem Sinne ist Strauß ein Sänger der pathetischen Manieristen, die innehalten, der schwierigen Spieler, die abwarten, der unruhigen Traditionalisten, die horchen. Ein Sänger derer, die in keiner Talkshow auftauchen, in keiner Umfrage, in keinem anderen Gesellschafts-Spiel. Ein unversöhnlicher Verzichter auf den Rumor von Gesinnungsgemeinschaften. Einer, der die Mythen als verlässliche Erkenntnisquelle benützt. Der nahezu unwirklich wirkende Einzelne also, just da postiert, wo sich die verbundenen Menschen in großer Zahl gegen die Horizonte strecken. Verbundenheit heute? Ja, eine Gemeinsamkeit des gehetzten, süchtigen Einklickens, Einschaltens, Einstimmens, und natürlich: Einkaufens.

Das ist für Strauß das Wesen des gelobten »Idioten«: unbeteiligt zu bleiben, wenn das Konsumierbare lockt. Auch das Konsumierbare einer eigenen Meinung, die in jeden Kommentarkübel hineinspringen darf, den das Internet einladend Portal nennt. Konsumierbarkeit ist das Kriterium einer Zeit geworden, in der das einst auszeichnende Wort vom Format ganz und gar zur Kategorie der Fernsehprogramme verkam. Konsumierbar müssen Weltbilder und Parteiprogramme sein; wir werden fächelnd umstürmt von Dingen, die »im Angebot« sind, von Schnäppchen auf Verkaufstheken bis hin zu politischen Lösungen.

Überall nur Angriffe einer totalen, erinnerungslos entfesselten Gegenwart auf die übrige, vorherige Zeit, die doch einmal Bindung war, Festlegung, Maßstab, Inspiration. Strauß sieht die bürgerliche Gesellschaft am gefährlichen Ende: Alle Praxis werde längst nicht mehr mit Grenzen konfrontiert, die zügeln. Und wo Glaube beschworen werde, hantiere doch nur ein rücksichtsloser Pragmatismus, der selbstgerecht religiöse Mängelrügen austeilt und die Welt nachhaltiger mit Eifer belegt als jede Religion.

Selbstredend benötigen Gesellschaften zu ihrer Existenz normative Dämpfungen und bürokratische Beruhigungstechniken. Gerichtet gegen den anarchischen Zorn im Menschen, der nicht zugeben will, dass wir Zufallsprodukte einer Natur sind, die mit uns nichts Besonderes bezweckt. Des Menschen Sehnsucht nach Ausschluss alles Fragwürdigen, Unwägbaren, Relativen, Unerwarteten ist nicht zu stillen. Sie schafft leider auch jene totalitären Felder, auf denen ordentlich gezogene Furchen als das wahre Malerische gelten. Wurde ein in alle Bereiche dringender Konsumismus nicht zur Neuform solch totalitärer Herrschaft? Die erneut Einzelne zur Masse formt, und diese Masse bildet sich ein, schon auf Wahrheitssuche zu sein, nur weil sie Preisschilder vergleicht. Selbstblindheit zeugt mit Orientierungsnotstand die Ziehkinder neuer Gefügigkeit.

Hingabe an unser inneres Ungleichgewicht ist uns meist nicht gegeben, wir wollen nicht auf Urängste stoßen. Aber: »Der heitere Idiot in der Welt der Informierten zu sein heißt, ohne eine Regung von Zukunftsunruhe zu leben.« Schreibt Strauß und spricht sehr ruhig vom »Untergang« als einer Grundbewegungsart des Daseins. Wer sich wirklich als Einzelner, willentlich Unzugehöriger begreift, der begreift zuallererst, wie viel Grund zu Verzweiflung ihm seine Existenz immer wieder aufgibt. Er mag aufleben in gegensteuernden Phantasien und Träumen, bleibt doch aber unrettbar. Was jedoch die Phantasien und Träume keinesfalls nichtig, sondern immer nötiger macht. Der brüchige Boden freilich wird nicht fester. So Viele, die das Letztere mit Blick auf Hier und Heute bejahen würden - um dann vielleicht mit einer kämpferischen Geste der utopischen Gesinnungsfreude nach vorn ins Bessere zu weisen. Für Strauß bleibt auch jeder künftige Boden brüchig.

Weil wir uns nicht ändern werden, müssen wir eine so gelassene wie exakt vorgehende Praxis entwickeln, welche die große Katastrophe verhindert, ohne an die Grundsubstanz des menschlichen Irrstrebens gehen zu wollen. Man könnte sagen: technologische Furchtlosigkeit plus christliche Demut. Botho Strauß schrieb schon vor Jahren, alle Politiker zum Beispiel wollten stets nur mit Werden beschäftigt sein, mit Dynamik, der Erzähler jedoch werde »die kostbaren Kristalle des Stillstands nicht in die Asche werfen«. Denn beim Werden wird so verhängnisvoll leicht vergessen, was und wer und wie wir sind.

Es werden daher Helden eines neuen Rückzugs benötigt, der doch ein Vormarsch wäre: voneinander lernen, im anderen, im schier Verfeindeten sich selber sehen. Differenz ertragen. Die Differenzen als Ertrag für sich selber sehen. Dies käme dem paradoxen, bizarren Bilde gleich, dass Angela Merkel in den Spiegel schaut und Katja Kipping sieht. Und umgekehrt. Nein, Politiker haben keine Zeit für Sagen und Märchen. »Im Politischen bleibt die rhythmische Wiederholung ein und derselben Phrase ohne jede magische Wirkung.« Der Dichter aber betreibt freie, wegschweifende, anschwellende Rede mitten im Klima krankhafter Reizbarkeit, er erfasst so ganz anders das Labyrinth der »erlittenen Welt«.

Und »erleiden« bleibt ein Hauptwort. Was wurde vor über zwanzig Jahren wider den Essay »Anschwellender Bocksgesang« gescholten! Darin Sätze, deren Wahrheit noch immer drückt: »Jedenfalls schützt Wohlhaben nicht vor der Demontage des Systems, dem es sich verdankt ... Da die Geschichte nicht aufgehört hat, ihre tragischen Dispositionen zu treffen, kann niemand voraussehen, ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder verschleppt.«

Strauß ruft auf, was nicht mehr da ist, in technisch durchgewalkter Gegenwart und ihren stillgelegten Menschen. Was vielleicht auch nie da war: existenzielle Ganzheit und Tiefe. Diesen Schriftsteller bewegt demnach, was in dieser Welt nicht von dieser Welt ist. Nie sein wird, wahrscheinlich. Aber doch als lebendiger Mythos neu ein Gesetz gründen könnte. Ein Gesetz wenigstens der Kunst.

Kein letztes Licht legt das Labyrinth der Innerlichkeit eines anderen frei, auch intensivste Liebe bleibt eine nie abgeschlossene Unterhaltung Einsamer. Denken aber hebt den Menschen heraus, macht ihn freilich einzeln und fremd. Denken kann erproben, was die Wirklichkeit nicht zulässt - eingedenk des unaufhebbaren Unterschieds zwischen der fiktiven Welt des Möglichen und jener Welt, in der die Menschen leben.

Eine verdammungswürdige Realität mit immer neuen Konstruktionen der Fantasie in Erstaunen oder Unruhe zu versetzen - das ist der Avantgardismus des Botho Strauß. Es ist Bekenntnis zu einem Außenseitertum, das sich selbst dann verraten fühlt, wenn es auf Zustimmung trifft.

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