Dirk Werner: Mythos made in Saxony

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Habe ich schon erzählt, wie wir zu dritt von Barth über Ribnitz nach Ahrenshoop liefen? Auf den Landstraßen, in der Nacht, nach dem Konzert von Karussell? Wenn uns in der Dunkelheit doch einmal ein Auto in grelle Fremdheit tauchte, war die Hoffnung umsonst. So wie es die andere - in mir - war. Jahrelang hatte ich mir vorgestellt, die Gruppe Renft (wir sagten ja nicht Band, sondern immer: Gruppe) würde in Karussell eine Art Auferstehung erleben, eine Wiederkehr. Doch mit jedem neuen Lied dieser Nachfolgenden, Harmloseren wurde meine Hoffnung lächerlicher. Renft war ein für allemal vorbei.

Die dreißig Kilometer liefen wir in einer Sommernacht. Denn wir waren vom Fischland am Abend mit dem Bus aufgebrochen und mussten dahin zurück. Die anderen drei unserer Kutter-Besatzung warteten. Wir wollten am Morgen weiter segeln. Im neuen Schuljahr danach brachte ich noch immer die LP›s von Renft und ihre Singles mit zu den Klassendiskos. Da legte jeder mal auf. Die 40/60-Regelung, wonach einem bestimmten Anteil westlicher Rockproduktionen ein höherer Satz an östlichen Musiktiteln gegenüberstehen musste - an sie dachte ich dabei nicht. Wir missachteten sie.

Fast nur eine Randnotiz

Fragt man jemanden beispielsweise in Stuttgart nach Rock und Pop in der DDR, so werden zumeist höchstens zwei Titel genannt: »Über sieben Brücken« von Karat und »Am Fenster« von City. Ansonsten wäre dieser Teil deutscher Rockmusik hier völlig ausgeblendet, gäbe es nicht von jüngeren DJs und Plattensammlern Bestrebungen, gerade LP's mit populärer DDR-Musik aus den 50ern und 60ern zu erwerben. Die Songs von Renft aus Leipzig hingegen sind völlig unbekannt. Bis Mitte der 70er Jahre sang die Band um Klaus »Renft« (eigentlich: Jentzsch) in poetischen und kritischen deutschen Texten von Scheitern, Traum und Verwandlung in diesem Teil Deutschlands. Für ihre Lieder und Texte, vor allem aber für ihre Unangepasstheit, wurde die Band von Jugendlichen ebenso geliebt wie schließlich durch die staatlichen Organe verboten.

Nach dem endgültigen Aus versuchten die Bandmitglieder sich in verschiedenen Projekten. Während Gerulf Pannach und Christian Kunert in Westberlin als Singersongwriter-Duo auftraten und Platten produzierten, blieben Jochen Hohl und Peter »Cäsar« Gläser als Bandmitglieder von Karussell weiterhin in der DDR. Nach dem Mauerfall gab es auch wieder Renft-Konzerte. Erst in seiner Autobiographie gestand Gläser, für die Stasi gearbeitet zu haben.

Dirk Werner

 

Aber Renft, als einzige Gruppe aus dem Osten an so einem Abend, musste sein. Die anderen ergaben sich dem (aber erst am Schluss, wenn alle müde getanzt und -getrunken waren), so wie sich die Mädchen in das untanzbare Gebrüll von Led Zeppelin fügten oder wir Jungs uns in die Softeissongs von Smoky. Den ganzen Abend lang völlig ohne deutsche Texte, die ich mitsingen konnte, und ohne den geringsten Bezug zu unserem Leben mit Ängsten, Fluchten, Traurigkeiten: Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich legte die schwarze Scheibe auf.

Wenige Jahre vorher - als ich als Zwölf- oder Dreizehnjähriger mit der zweiten Langspielplatte von Renft unterm Arm durch unser Dorf lief - fühlte ich mich auserwählt. Denn als ich auf der Strandstraße entlang kam, war ich mir sicher, der einzige weit und breit zu sein, der diese Schallplatte besaß. Ich bin bis heute davon überzeugt. Nicht dass es tatsächlich so war, doch dass meine Empfindung auf eine bestimmte Art ihre Richtigkeit hatte. Jedoch war ich dann entsetzt von der Musik. Und enttäuscht. Dennoch - es muss einen Weg für mich gegeben haben in die fremden Klänge hinein und durch sie hindurch, weil ich diesen Weg wollte, durch den ich dann selbst Rhythmus, Text, Gefühl wurde.

Dass ich die Platte in der Folge so oft hörte, bis es ihr gelang, schwarze, ordnende Schnitte durch meine eigene Wirrsal als Junge und sehr junger Mann zu machen, lag einzig daran, dass mein ältester Bruder ein so ausdrücklicher Anhänger der Gruppe war. Irgendwann begann er, mit anderen Musik zu machen und mit ihnen die Lieder nachzuspielen. Vorher, noch ehe er von der Schule flog, und schon lange bevor er mir Zehnjährigem von den Beatles erzählte, war er der erste Popstar in meinem Leben. Sang russische und italienische Partisanenlieder abends an meinem Bett. Kein Partisan sang da sonst.

Er war es auch, der mir die »erste« von Renft schenkte, die konventionellere, volksliedhafte, die erschienen war, ehe sie begannen. Ich meine, ehe sie wirklich anfingen. Er hatte die Platte wohl über. Oder intus: Sang sie nach. Dazu sprang er in unserer Küche auf den Hocker. Hier, zeigte er mir eine Stelle in der von Bratenduft geschwängerten Luft, meine Mutter war kurz verschwunden und hatte das Garen zu überwachen uns überlassen, hier ist der Hals von Klaus Renfts Bass. Die Finger meines Bruders griffen in der Luft einen Akkord. Und dort entlang, so, zeigte er, geht der Gurt (er drehte mir den Rücken zu): Über die Schulter, den Rücken, den Hintern und dann ... Das macht nur Klaus Jentzsch so, also Renft, zwischen den Beinen hindurch zum unteren Ende der Gitarre wieder nach vorn. So kam es, dass die Gitarre den Gitarristenleib nicht kreuzte, sondern aufrecht daran geschmiegt lag, gespielt, getanzt zu werden. Wie ein richtiger Bass, Kontrabass, eine Kontrabässin eben.

Mein Bruder dreht sich wieder nach vorn, vor mir das imaginäre Instrument zupfend. Kinder, ich bin nicht der Sandmann, ich bin von ganz anderer Art, sang er (einen Titel noch von der ersten LP), vom Herd her roch es angebrannt.

In der Schule waren wir nur wenige Anhänger, aber die, die es waren, blieben unbeirrbar: Mein Schulfreund, der wie mein Bruder von der Schule flog, eine Klassenkameradin, die sich bei mir die zweite LP lieh, um sich Zeile für Zeile die Texte von Gerulf Pannach und Kurt Demmler aufzuschreiben. Als es dann mit Renft endgültig vorbei war, schien ich mir wieder wie ein einziger Zeuge zu sein. Wir lebten ja alle ohne Westfernsehen und -radio. So war es Zufall und doch kein Zufall, dass ich ausgerechnet an dem Abend bei meinen Großeltern fernsah, die, in einer nur wenige Kilometer weiter westlich gelegenen Stadt, die Bilder von »drüben« empfingen: Zum ersten Mal sah ich da Live-Mitschnitte eines Renft-Konzerts. Ich sah Klaus Jentzsch, Christian Kunert, Peter Kschentz und die anderen zum ersten Mal auf einer Bühne in rauchgeschwängerter Luft sich bewegen - es war das letzte Mal. Denn dass sich die Sendung des ZDF den Sechsen widmete, hatte einen einzigen Grund. Und wenn ich nicht diese Bilder gesehen hätte, just da wieder ein Auserwählter gewesen wäre - wie hätte die Welt, wie hätten die Meinen davon erfahren sollen? Die wir die Platten, Autogrammfotos und Plakate nun noch mehr liebten, denn Renft war verboten worden.

Das war 1975. Noch vor Karussell also. Ich war vierzehn. Wenn Renft in den Jahren zuvor auf ihrer Single »Zwischen Liebe und Zorn«, die ich nur unter Schwierigkeiten bekommen konnte, an den Sinn der Revolution erinnert hatten, an die ich damals glaubte, so klang das in meinen Ohren nicht, als sängen sie einer DDR, wie sie die Oberen gern vorgaukelten. Sie sangen für mich damals einer gar nicht begonnenen, unvollendeten, nie stattgefundenen Revolution, einer deutschen und demokratischen Republik, wie es sie noch nie gegeben hatte. Was konnte einen jungen Heißsporn wie mich mehr entflammen? In dem Fernsehbeitrag von »Kennzeichen D« aber hieß es, Renft sei diesmal endgültig verboten worden, einige der Musiker seien bereits im Westen. Allein Jochen Hohl und Cäsar, die zurückblieben, spielten später bei Karussell.

Nur wenige Monate vor dem Verbot hatte die DDR-Jugendzeitschrift »neues leben« ihre Leser aufgerufen, die beste Band, die besten Musiker an den einzelnen Instrumenten zu wählen. Nicht die Puhdys wurden es, nicht Karat: Renft machte das Rennen, und Peter »Cäsar« Gläser und Jochen Hohl wurden bester Gitarrist, bester Schlagzeuger. Für die Unsterblichkeit einer Band aber sorgen keine Abstimmungen. Erst der plötzliche Tod eines oder mehrerer Musiker oder das absolute Verbot machen die ewige Erinnerung aus. Gerade gekürt und ausgelöscht, wurden die Leipziger Musiker für mich und andere meiner Generation zur Legende. Wie jede innovative Rockmusik war ihre subversiv, die Sprache für mich Sabotage des Bestehenden. »Ich bau euch ein Lied aus blauen Pflastersteinen«, hieß es da. Man hatte aber oben nicht warten wollen, bis diese Worte Material wurden, zum Schmeißen vielleicht, oder für Barrikaden.

Man hat uns oft bemitleidet - oder auch müde belächelt - Menschen, die im »Tal der Ahnungslosen« lebten, also in Dresden oder wie wir nahe Stralsund, ohne Empfang der Westmedien. Denn man meinte uns nicht nur bei den Informationen benachteiligt, sondern genauso in der Kunst wie der Rockmusik. Ich aber kann mich nicht erinnern, mich damals bemitleidet zu haben. Denn zum einen hatten wir Schallplatten der Rolling Stones oder John Lennons vom Schwarzmarkt, zum anderen aber wechselten sich diese Scheiben - wenn meine Brüder und ich mal wieder eine unserer nicht endenden Schallplattennächte hatten - gleichberechtigt, ohne Zwang und Überlegung mit denen polnischer, ungarischer oder ostdeutscher Bands ab. Die ich in der Erinnerung an meine Jugend nicht missen möchte. Denn selbst wenn Renfts kritischste Songs nur auf ihren Konzerten zu hören waren und nicht aus den schwarzen Rillen kamen - da ich selbst zweifelte, fand ich auch in dem Veröffentlichten genug Kritik, ob sie nun gewollt und versteckt war oder nur durch mich hinein gedacht. Als Wort-Empfindlicher erwuchs für mich die Qualität von Rock auch aus deutschen, handwerklich gut gemachten, der Phantasie Raum gebenden Zeilen, wie es sie vom Texter der Band, Gerulf Pannach, gab.

»Renft« kommt übrigens aus dem Sächsischen und bedeutet nichts anderes als »Brotkanten«, das von Rinde umgebene Ende eines Brotes. In seinem Leben hatte Klaus Jentzsch vor dieser andere Bands gehabt, mit denen er andere Verbote erlebte. 1979 wurde ich Aushilfskellner in einem Kurhaus, das von einem Leipziger, Peter Washeim, geleitet wurde. Als ich dort einmal während der Arbeit eine Melodie von Renft pfiff, kamen wir über seinen sächsischen Landsmann ins Gespräch. Eine Band unter Beteiligung desselben, Butler geheißen, wurde schon in den sechziger Jahren mit einem Verbot belegt. Renft durfte später erneut auftreten, ja, aber für Butler hatten Jugendliche den Mut gefunden zu demonstrieren. Washeim war einer von dreien damals gewesen, die hoch oben auf das Dach eines Leipziger Hauses stiegen. Vorher hatten sie mit einem Spielzeug-Stempelkasten Flugblätter gedruckt.

Die nun auf die Erde zu den Passanten flatterten, so dass die von der Willkür erfuhren und von der Forderung der drei, den Entscheid zurückzunehmen. Sie wurden verhaftet. Washeim, damals sechzehn, führte man aus dem Sportunterricht in der Schule in Handschellen ab. Die Mutter eines der anderen beiden hatte sie verpetzt. Die zwei, schon achtzehn, mussten in den Bergbau. Er selbst bekam eine Gefängnisstrafe. Anschließend, sagte er mir, war es ihm auf Lebenszeit verwehrt, ein Studium an einer Universität in der DDR zu beginnen. Er erzählte es mir im Kurhaus am Ende der Strandstraße, die entlang ich einst meine Schallplatte getragen hatte.

Ich bau euch ein Lied
Aus blauen Pflastersteinen
Und lege es in eure Hand
Da fallen die Steine
Allmählich auseinander

Und werden ein herrlicher Sand
Und blast ihr in den Sand
Euern Atem aus
Werden Wellen draus

Mögen diese Wellen
Auch in euch selber Kreise ziehn
Auf den Schwellen
Zum Herzen euch wie Blumen blühn

Ich bau euch ein Lied
Aus Atem und Stein ...


Text: Kurt Demmler, Musik: Jochen Hohl

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