Zu spät und mit stumpfen Waffen

Der Historiker Carlo Gentile über die Aufarbeitung der NS-Kriegsverbrechen

  • Lesedauer: 6 Min.
Carlo Gentile ist promovierter Geschichtswissenschaftler und seit 2005 am Martin-Buber-Institut für Judaistik an der Universität zu Köln tätig. Zuletzt erschien von ihm das umfangreiche Buch »Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg: Italien 1943-1945« (Schöningh, 2012). Mit Gentile sprach für »nd« Katja Herzberg.

nd: Wie sind Sie zu dem alles andere als einfachen Thema NS-Kriegsverbrechen gekommen?
Gentile: Ich stamme aus einer Gegend, in der der Partisanenkrieg sehr heftig gewesen ist. Die Stadt heißt Imperia und liegt an der ligurischen Küste zwischen Genua und der französischen Grenze. Dort war der Krieg auch in der Nachkriegszeit sehr präsent. Die Erwachsenen haben viel über die Zeit erzählt. Wir als Kinder haben die Ohren gespitzt und gelauscht. Diese Zeit hat mich schon interessiert, aber ich habe mich in meiner Jugend nicht besonders damit beschäftigt. Als ich dann nach Deutschland kam, um zu studieren, habe ich mich eher zunächst für mittelalterliche Geschichte interessiert. Im Zuge eines Seminars bin ich dann auf das Thema gekommen, habe angefangen zu recherchieren. Sehr bald war meine Neugierde so groß, dass ich in den Archiven an Originalunterlagen über diese Zeit gelangen wollte.

Wann sind Sie dann Experte bei Ermittlungsverfahren gegen Kriegsverbrecher geworden?
Ende der 90er Jahre, als die Welle der Ermittlungsverfahren nach der Entdeckung des sogenannten Schranks der Schande anfing, hatte ich schon einige kleine Studien über die deutsche Besatzungszeit und den Partisanenkrieg in Italien veröffentlicht. Da sind einige Staatsanwälte auf mich zugekommen und haben gefragt, ob ich bereit wäre, auch für sie Recherchen durchzuführen, Gutachten zu schreiben usw. Das habe ich getan und so habe ich von Ende der 90er Jahre bis 2005 an vielen solchen Ermittlungsverfahren mitgewirkt. Als Sachverständiger habe ich für mehrere italienische Militärstaatsanwaltschaften gearbeitet, aber auch für deutsche Justizbehörden wie in Dortmund oder Ludwigsburg. In der Zeit wurde mir immer klarer, dass das Thema doch sehr wenig bekannt ist.

Welche Stellen in Deutschland waren für Ihre Forschung von Bedeutung?
Besonders wichtig waren die Deutsche Dienststelle hier in Berlin und das Bundesarchiv. Personalakten haben es mir ermöglicht, die Personalstruktur der für die Kriegsverbrechen verantwortlichen Einheiten ziemlich genau zu rekonstruieren. Diese Dokumente gestatteten es, mit einem sehr hohen Grad an Präzision anzugeben, welche Einheiten für welche Kriegsverbrechen verantwortlich sind. Es gelingt teilweise bis auf Kompanieebene. Das ist eindeutig präziser als bisher bekannt war.

Hat für Sie dabei die deutsche Perspektive auf das Thema eine Rolle gespielt?
Ich hatte immer eine doppelte Perspektive. Ich konnte beide Sprachen und konnte mich auch in die deutsche Seite hineinversetzen. Gleichzeitig war ich Italiener und wusste sehr genau, was der Partisanenkrieg tatsächlich für die Menschen in Italien bedeutet hatte. Ich bin ja selbst mit diesen Erzählungen aufgewachsen.

Sie haben auch in der deutsch-italienischen Historikerkommission mitgearbeitet, die sich im Auftrag beider Länder mit dem Verhältnis von Deutschen und Italienern zwischen 1943 und 1945 beschäftigte. Wie lauten Ihre Empfehlungen zum Umgang mit dieser Ära?
Wir haben den Vorschlag gemacht, dass in Berlin eine Gedenkstätte für die italienischen Militärinternierten eingerichtet wird. Das ist erinnerungspolitisch sehr wichtig und es ist von Bedeutung, dass dies in Schöneweide geschieht, wo noch Originalgebäude eines Zwangsarbeiterlagers existieren. Es ist schon etwas anderes, als wenn man irgendwo eine Tafel oder ein Denkmal aufstellt. Das ist lebendige Geschichte. Zudem wäre es natürlich toll, wenn man jungen Historikern und Historikerinnen helfen würde, ihre Forschung über diese Zeit fortzusetzen.

Da sehen Sie immer noch großes Potenzial?
Aber sicher. Wir haben allein, was die Militärinternierten angeht, in der kurzen Zeit der Arbeit der Kommission so viele neue Quellen ausfindig gemacht. Auch das Thema Partisanenkrieg, Massaker und Kriegsverbrechen ist noch nicht erschöpft. Es gibt noch viele Aspekte, die untersucht werden müssen, Fallstudien, die wichtig wären, um genau die Motivation und Einstellungen der deutschen Soldaten zu klären und noch feinere Differenzierungen zu ermöglichen.

Was muss dafür getan werden?
Was ich zum Beispiel in meiner Forschung nicht berücksichtigt habe, ist das ganze erfahrungsgeschichtliche Material - die Tagebücher der deutschen Soldaten, die sogenannten Ego-Dokumente. In Italien gab es während des Krieges auch eine deutsch sprechende Gemeinde, die aus Zivilisten bestand - darunter Mitglieder der Auslandsorganisation der Nationalsozialistischen Partei, aber auch Intellektuelle und Antifaschisten, die vor den Nazis geflohen sind, sowie deutsche und österreichische Juden. Das ist ein wichtiges Thema, über das noch nicht viel geschrieben worden ist.

Sind Sie mit dem Bericht der Kommission zufrieden?
Ja. Es waren zehn Personen aus zwei Ländern beteiligt, mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Was wir veröffentlicht haben, ist ein guter Kompromiss. Es hat auch Diskussionen gegeben. Ich konnte sicherlich nicht alles durchsetzen, was ich mir gewünscht hätte, aber ich bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis.

Die Frage der Bestrafung der Täter spielte kaum eine Rolle in dem Bericht. Ist das kein Thema mehr?
Das ist kein Problem der Historiker, sondern der Juristen. Wir Historiker sind gern bereit, diese Arbeit nach Kräften zu unterstützen. Aber da muss auch das Interesse von Seiten der Justiz kommen. Wenn sie sagen, wir brauchen sachkundige Hilfe, sind alle Historiker gern bereit zu helfen.

Warum sind die NS-Kriegsverbrechen heute noch immer noch immer so präsent in Italien?
Schon wegen des Ausmaßes der Verbrechen. Zehntausend Zivilisten wurden zwischen Sommer 1943 und Frühjahr 1945 von deutschen Soldaten ermordet. In manchen Provinzen war jeder zweite Kriegstote ein von deutschen Soldaten getöteter Zivilist. Außerdem kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Wenn sie das Opfer eines Verbrechens sind, werden sie traumatisiert. Und dieses Trauma werden sie wahrscheinlich Jahrzehnte mit sich herumschleppen und an die nächste Generation weitergeben. Die psychologischen Ausmaße solcher Massenverbrechen sind enorm. Wenn die Eltern oder andere enge Angehörige getötet worden sind, ist das für die Überlebenden eine existenzielle Frage. Daher ist es wichtig, das ernst zu nehmen.

Erwarten Sie angesichts der jüngsten Einstellung der Ermittlungen im Fall Sant›Anna di Stazzema weitere Gerichtsverfahren zu NS-Kriegsverbrechen in Deutschland?
Ich kenne nicht in allen Fällen den aktuellen Stand. Aber ich nehme an, dass die meisten Ermittlungen - ähnlich wie die zu Sant’Anna di Stazzema - im Laufe der letzten Jahre eingestellt worden sind. Der Fall von Sant’Anna hat nochmals die Schwierigkeiten gezeigt, mit denen diese Arbeit verbunden ist.

Sicherlich macht die lange Zeit, die seit den Taten vergangen ist, diese Arbeit nicht einfacher. Aber wir müssen auch bedenken, dass in der deutschen Nachkriegsgesellschaft die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen wenig populär war. Diese Grundtendenz wurde im Laufe der Zeit schwächer. Die Einsicht, dass es richtig ist, NS- und Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen, ist noch nie so verbreitet gewesen wie heute. Aber auch wenn die Gesellschaft jetzt viel eher bereit ist, diese Verbrechen zu verfolgen und vor Gericht zu bringen, geschieht dies mit einem juristischen Instrumentarium, das keine den Dimensionen und der Natur der NS-Verbrechen angemessene rechtliche Grundlage bildet. Wir kommen leider zu spät und mit stumpfen Waffen.

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