nd-aktuell.de / 17.08.2013 / Politik / Seite 3

Mit Klappmesser in die Schlacht

Ägypter gehen aufeinander los - und ein stolzes Land zerfällt

Oliver Eberhardt, Kairo
Nach den Freitagsgebeten sind die Sicherheitskräfte in Ägypten erneut mit ganzer Härte gegen Demonstranten vorgegangen; es gab viele Tote und Verletzte. Verstärkung bekommen Polizei und Armee mittlerweile von Bürgermilizen: Gruppen von Jugendlichen, die Jagd auf Muslimbrüder machen.

Sie könnten Mitschüler sein. Kollegen. Freunde sogar. Heute sind sie Feinde. Todfeinde. Auf dieser Straße hier im Zentrum von Kairo herrscht eine gespenstische Leere, als plötzlich ein Van angerast kommt, die Türen auffliegen, und eine Gruppe von acht oder neun jungen Männern heraus springt. Klappmesser in der Hand. Metallrohre, umwickelt mit Stacheldraht. Kann man sie fragen, was sie vorhaben? Ihre Blicke raten davon ab. Ein Poster mit dem Konterfei von Abdelfattah al-Sisi auf einem der Sitze verrät, auf wessen Mission sie sind, als sie die Straße hinunter jagen - dorthin, wo die Schüsse zu hören sind, wo das Tränengas Richtung Himmel steigt.

Dorthin, wo auch Tarik und einige seiner Freunde hin wollten. Minuten zuvor sind sie die Straße hinunter gelaufen zum Ramses-Platz. Dort haben sich nach dem Ende der Freitagsgebete Zehntausende versammelt, um gegen die Absetzung von Präsident Mohammad Mursi, gegen die Übergangsregierung, die de facto eine Militärregierung ist, zu demonstrieren.

Auch Tarik und seine Kumpel, allesamt höchstens 18, sind wütend. Wütend auf die Polizei, das Militär, die am Mittwoch die überwiegend friedlichen Protestlager in Kairo geräumt haben. Wütend auch auf das Innenministerium, das dafür verantwortlich ist, dass auch heute, am Freitag, noch mehr als 100 Tote in einer Moschee in der Nähe der ehemaligen Protestlager liegen, ohne dass sie beerdigt werden können. es gibt immer noch keine Totenscheine.

Die jungen Männer wissen es und sagen es offen: Auch sie können bald schon an einem solchen Ort ihrer letzten Würde beraubt sein. »Wenn man es mit Terrorismus zu tun hat, sind die Bedingungen von Bürger- und Menschenrechten nicht anwendbar«, zitierte die englischsprachige Ausgabe des Wall Street Journal am Freitag Ahmed Ali, Sprecher des Verteidigungsministeriums.

Ein Leitsatz, der heute das Handeln vor allem der Befürworter des Umsturzes Anfang Juli bestimmt. In den Morgenstunden waren in vielen Stadtvierteln Kairos Flugblätter aufgetaucht, auf denen die Bevölkerung dazu aufgerufen wird, die Nachbarschaft und ihren Besitz zu verteidigen.

Gerüchte über angebliche Gräueltaten der Muslimbrüder machen die Runde. Immer und immer wieder werden die mittlerweile offiziell 638 Todesopfer am Mittwoch gerechtfertigt, teils mit absurd anmutenden Argumenten. Der ständige Lärm der von dem Protestlager auf dem Rabaa-al-Adawija-Platz ausging, sei unzumutbar gewesen, sagte ein Anwohner, bevor er sich wortreich über die »stinkenden Muslimbrüder« aufregte.

Und so sind es an diesem Nachmittag nicht mehr nur pro-Mursi-Demonstranten und Sicherheitskräfte, die sich gegenüber stehen. Es sind auch Bürger, Jugendliche, bereit auch mit Gewalt das zu verteidigen, was sie für das wahre Ägypten halten. Es ist gerade erst sechs Wochen her, aber heute scheint es wie ein ganzes Jahrhundert, seit kurz nach dem Umsturz säkulare und religiöse junge Ägypter in Cafés und auf Plätzen emotional, ja, aber auch friedlich über den richtigen Weg diskutierten.

Es ist schon eine Ewigkeit, in der die Medien von der Übergangsregierung gleich geschaltet worden sind, und diese Medien den Menschen dann einen nicht endenden Strom an Berichten über die Gegner des Umsturzes präsentierten. Der emotionalisierte und radikalisierte. Auf Seiten der Muslimbrüder, in den Protestlagern, wo die Menschen fast ausschließlich den Ansichten der Vertreter des eigenen Lagers ausgesetzt waren, passierte etwas Ähnliches.

»Das, was wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, ist das Entstehen eines Bürgerkrieges«, sagt ein Diplomat der Europäischen Union. Die bemüht sich nach wie vor gemeinsam mit den Vereinigten Staaten darum, die Lage zu entspannen. Eine Bemühung, von denen viele derjenigen, die daran beteiligt sind, offen eingestehen, dass die Hoffnungen gering sind. »Es wird zunehmend deutlich, dass die Übergangsregierung absolut nichts zu sagen hat«, sagt der Diplomat: »Sie beschließt das, was al-Sisi will, und verleiht seinen Wünschen damit eine gewisse Legitimität. Er kann weiterhin behaupten, dass das alles nur für den Übergang ist, und alles seinen geregelten Gang läuft.«

So erklärt sich auch, dass der Generalstabschef, Verteidigungsminister und Vizeregierungschef in Personalunion derzeit nicht in der Öffentlichkeit auftritt. Dadurch wolle er wohl den Eindruck vermeiden, dass es sich bei der Übergangsregierung tatsächlich um eine Militärregierung handelt, glaubt der Diplomat.

Doch der Eindruck lässt sich auch so nicht mehr aus der Welt schaffen, auch nicht bei einer zunehmenden Zahl von säkularen Ägyptern: Unter den Demonstranten an diesem Freitag fallen immer wieder Menschen auf, die von sich sagen, dass sie sich nicht mit den Zielen der Muslimbrüder identifizieren, aber gegen die aktuellen Entwicklungen sind.

Vor allem sie äußern die Hoffnung, dass vielleicht Mohammad al-Baradei den Weg zurück in die Politik findet. Dem Vernehmen nach spielte er in dem Friedensplan eine zentrale Rolle, mit dem Europäische Union und Vereinigte Staaten am Dienstag bis zur letzten Minute versuchten, die Räumung und damit die zu erwartende Eskalation zu verhindern. Er sollte Übergangspräsident Adly Mansur, einen Juristen ohne politische Erfahrung, ablösen. Für die Muslimbruderschaft wäre das akzeptabel gewesen. Doch die Regierung lehnte ab - offiziell, weil man den Muslimbrüdern nicht vertraut. Doch tatsächlich scheint es so gewesen zu sein, dass damit auch ein Machtverlust al-Sisis einher gegangen wäre.

Seit seinem Rücktritt am Mittwochabend ist al-Baradei nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten. Mitarbeiter sagen allerdings, die Ereignisse hätten ihn »tief erschüttert«.

Ereignisse, die sich am Freitag Nachmittag zuspitzen. Jugendliche wie jene, die Stunden zuvor aus dem Van gestürmt sind, das Klappmesser, das Stacheldraht-Rohr in der Hand, und Jugendliche wie Tarek und seine Freunde liefern sich rund um den Ramses-Platz Straßenschlachten.

Die Zahl der Opfer ist derzeit kaum zu beziffern, auch nicht von den Krankenhäusern. Dort befinden sich die Mitarbeiter am Rande der Verzweiflung. Verbandsmittel, Medikamente, selbst saubere Bettücher - es fehlt an allem, nachdem man seit Mittwoch Tausende Verletzte hatte behandeln müssen. Nachschub ist nicht in Sicht.

Tarek und die anderen hatten sich, bevor sie losgezogen sind, ihre Namen auf den Unterarm geschrieben, damit man sie identifizieren kann. Sie wissen, dass heute ihr letzter Tag sein kann. Am Mittwoch haben sie gelernt, dass die Polizei auf die Köpfe zielt, bevor sie schießt. Und dass man danach nicht mehr erkennbar ist. »Ich will nicht, dass alle so denken wie ich«, sagte Tarek, bevor sich die Gruppe auf den Weg machte: »Ich möchte Demokratie.«

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