nd-aktuell.de / 24.08.2013 / Kommentare / Seite 27

Das Phänomen Apolitie

Georg Fülberth
Georg Fülberth ist Politikwissenschaftler und Publizist. Bis 1966 war er Mitglied der SPD, seit 1974 gehört er der DKP an.
Georg Fülberth ist Politikwissenschaftler und Publizist. Bis 1966 war er Mitglied der SPD, seit 1974 gehört er der DKP an.

Zwischen den Zeilen der Presse geistert ein Wortgespenst, das selbst da sichtbar bleibt, wo es nicht beim Namen genannt wird: Großereignis. Wenn nicht bald etwas völlig Überraschendes und Überwältigendes geschehe - wie 2002 in Ostdeutschland die Flut oder die Anschläge in Madrid 2004, aber wer will denn derlei? -, sei die Bundestagswahl vom 22. September schon jetzt gelaufen. Alle meinen es zu wissen, aber niemand will so recht daran glauben, denn es passt nicht zu einem großen Industrieland mit einer ja doch täglich produzierenden veröffentlichten Meinung.

SPD und Grüne machen Wahlversprechen, die sie schon vorher gebrochen haben: in ihrer gemeinsamen Regierungszeit 1998 bis 2005. Die Behauptung der Kanzlerin, zu ihrem bleiernen Stillsitzen gebe es keine Alternative, wirkt weniger verärgernd als beruhigend. Dass die FDP wieder in den Bundestag kommt, scheint ohnehin klar, alle Untergangsprophezeiungen für diese Partei seit fünfeinhalb Jahrzehnten haben sich blamiert. Und dass Union, Liberale, Grüne und SPD sich nur in ihren Wahlprogrammen deutlich unterscheiden, sonst aber nicht (zumindest im Bund), ist tatsächlich unübersehbar. Die Prognose, dass die LINKE nach den derzeitigen Umfragen wieder mehr als fünf Prozent bekommen wird und dass dies folgenlos bleiben werde, wird so gelassen hingenommen wie das Damen-(heute: Partner-)-Beiprogramm bei Staatsbesuchen.

In Wirklichkeit hat das Großereignis schon stattgefunden. Es sind sogar zwei: die Krisenserie seit 2007 und der deutsch-US-amerikanische Abhörskandal. Von beiden geht keine mobilisierende, sondern eine lähmende Wirkung aus: Parlamentarische, überhaupt demokratische Politik scheint ohnmächtig gegenüber dem Diktat der »Märkte« und verselbständigten internationalen Exekutiven. In einer solchen Situation breitet sich ein Phänomen aus, das Althistoriker kennen: die Apolitie. Nach dem Ende der römischen Bürgerkriege verschwanden die beiden bisherigen innenpolitischen Antagonisten: die (sozusagen linken) Popularen und die konservativen Optimaten. Es gab keine Gegensätze mehr. Politik beschränkte sich auf Kabalen im kaiserlichen Palast und auf Grenzkriege.

Ein Oberflächenprodukt dieses Tiefenprozesses ist die öffentliche Erwägung, ob es überhaupt noch sinnvoll sei, zur Wahl zu gehen. Im »Spiegel« hat sich kürzlich der Sozialpsychologe Harald Welzer in diesem Sinne geäußert, und zum Ritual gehört, dass ihm jemand widerspricht: Ulf Poschardt in der »Welt«.

Das ist - hat es jemand gemerkt? - eine ziemlich alte Attitüde. 1994 veröffentlichte Uwe Koch das Buch: »Das Gewicht der Stimme. Die Verteidigung des Nichtwählers«. 2009 meldete sich Gabor Steingart mit dem Titel »Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers«. 1988 hatte sich in Westdeutschland eine kleine, aber feine und zunächst perspektivreiche Formation gebildet: die »Radikale Linke« unter anderem um dissentierende Grüne und um den »Kommunistischen Bund«. 1990 zerstritt sie sich über die Frage, ob man die Bundestagswahlen aus Protest gegen die kapitalistische Wiedervereinigung boykottieren oder aus demselben Grund die PDS wählen sollte.

Verzichtserklärungen auf Gebrauch des Stimmrechts sind wohl erst für die Zeit nach 1989 typisch. Wie auch immer man zum staatlichen Sozialismus stand, seine Existenz allein bedeutete eine Entscheidungssituation: für oder wider. Mit seinem Wegfall beginnt die Zeit der modernen Apolitie. Ihr Manifest ist ein Aufsatz aus dem Jahr 1989: »The End of History« (1992 als Buch mit gleichem Titel). Sein Verfasser, Francis Fukuyama, ist nicht nur Politologe, sondern - und das gehört hier dazu - Altertumswissenschaftler.

Apolitie ist eine ernste Sache. Sie bedeutet alternativlose Herrschaft des Kapitals und deren stumme Hinnahme durch die Volksmassen in der - Originalton Merkel - »marktkonformen Demokratie«. Anders als im alten Rom ist sie diesmal nicht einmal Ausdruck von Stabilität. Seit 2007 wissen wir, dass »die Märkte« nicht strategiefähig sind. Derzeit macht sich Politik zwar zu ihrer Komplizin, indem sie die Entscheidung zum Beispiel über die Zukunft der billionenschweren faulen Kredite hinter die Ziellinie der nächsten Wahl trickst. Wenn danach die Rechnungen präsentiert werden, könnten sich einige wundern, sobald ihnen das Fell über die Ohren gezogen wird. Ob das weiterhin apolitisch ertragen wird, mag sich zeigen. Die aktuellen koketten Mitteilungen, dass dieser oder jener nicht wählen wolle, werden dann wohl niemanden mehr interessieren.