Verschwiegene Hilfe des »Klassenfeindes«

Hungersnöte im Staatssozialismus unter Stalin und Mao

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Als der chinesische Schriftsteller Mo Yan den Literaturnobelpreis erhielt, wurde Kritik an dessen angeblich zu konformistischer politischer Haltung laut. Kaum zur Sprache kam, dass sein Werk und insbesondere seine Kurzgeschichten vor einem anderen Hintergrund überaus interessant sind: nämlich dem der Hungerkatastrophe Chinas infolge des Großen Sprungs nach vorn in den Jahren 1958 bis 1961. Hierauf weist der in Wien lehrende Sinologe Felix Wemheuer in seinem Buch über Hungersnöte unter Stalin und Mao hin. Denn wer in China Auskunft über die verheerenden Folgen des Hungers, dem Schätzungen zufolge ca. 32 Millionen Menschen zum Opfer fielen, bekommen möchte, der findet diese eher in Büchern von Mo Yan als in wissenschaftlichen Studien. Das Thema ist in China noch immer tabuisiert; in offiziellen Dokumenten ist lediglich von drei Jahren einer Naturkatastrophe die Rede.

Wemheuer fragt, wie es sein kann, dass 80 Prozent aller Hungeropfer des 20. Jahrhunderts in der UdSSR und der Volksrepublik China zu verzeichnen sind. In Staaten also, die sich die Überwindung von Hunger auf die Fahnen geschrieben hatten. Der Autor hofft damit, einen Beitrag zur Diskussion über das Scheitern des Sozialismus leisten zu können.

Seine vergleichende Betrachtung offenbart interessante Parallelen wie auch Unterschiede. Eine gravierende Besonderheit stellt Wemheuer bei der sowjetischen Hungersnot 1921 infolge einer schweren Dürre fest. Lenin und die Bolschewiki machten dieses Desaster öffentlich - im Gegensatz zu folgenden in der Sowjetunion. Maxim Gorki appellierte damals an das Weltproletariat, Hilfe zu leisten. Und tatsächlich kam dieses dem Aufruf nach, doch Millionen Menschen, vornehmlich Kinder, konnten nur aufgrund der Hilfe der American Relief Administration (ARA) gerettet werden. Gleichwohl verloren fünf bis zehn Millionen Menschen ihr Leben. Die Hilfe der »US-Imperialisten« verlief freilich nicht ohne Konflikte. Lenin soll über die Amerikaner im Land geschimpft haben und Stalin warnte vor der Hilfe von außen.

Es nimmt daher nicht wunder, dass Stalin in späteren Fällen die Existenz von Hungersnöten öffentlich schlichtweg verleugnete. Ihm, wie übrigens auch Mao Zedong, war das Ansehen in der Weltöffentlichkeit wichtiger als die Chance, zahllosen hungernden Bauern zu helfen.

Als infolge der Kollektivierung der Landwirtschaft und der forcierten Industrialisierung in den Jahren 1931 bis 1933 schätzungsweise sechs bis acht Millionen Menschen in der UdSSR verhungerten, wurde darüber nicht nur Stillschweigen gewahrt, sondern sogar noch Getreide zur Devisenbeschaffung ins Ausland exportiert. So war es auch 1946, als einige Sowjetrepubliken erneut infolge einer Dürre am Hungertuch nagten.

Ähnlich in China: Wemheuer zeigt, dass im Falle eines chinesischen Exportstopps von Getreide ab 1959 immerhin 25,9 Millionen Menschenleben hätten gerettet werden können. Für die Sowjetunion 1932/33 beziffert er diese Zahl auf 8,2 Millionen potenziell geretteter Betroffener. Hierin sieht der Autor demzufolge auch die schwere Schuld von Stalin und Mao. Er schließt sich aber nicht der These vom geplanten Genozid an, wie sie einige Historiker mit Bezug auf die Ukraine 1932/32 vertreten (sog. Holodomor). Als stärkstes Argument führt er an, dass das Politbüro zwischen Februar und Juli 1933 »nicht weniger als 35 streng geheime Entscheidungen traf, um Lebensmittelhilfen in die Ukraine und in den Nordkaukasus zu schicken. Dieses Beispiel zeige, dass Stalin das Schicksal der Bauern nicht völlig gleichgültig war.

Als «sicher wichtigen Grund» für das Scheitern des Sozialismus im 20. Jahrhundert erachtet Wemheuer resümierend die Eskalation des Konflikts zwischen Staat und Bauern um das Getreide. Beide Staatsführungen gingen davon aus, dass nur durch eine Steigerung der Agrarproduktion die Industrialisierung vorangetrieben werden könne. Insofern sei die Landwirtschaft die Achillesferse der staatssozialistischen Ökonomie geblieben. Der Verfasser rekurriert hier auf die sogenannte ursprüngliche Akkumulation aus dem Marxschen «Kapital».

Das haben vor ihm schon andere getan und auch darauf verwiesen, dass in der UdSSR und der Volksrepublik dieser Prozess im Gegensatz zu bürgerlichen Gesellschaften nicht Jahrhunderte, sondern lediglich wenige Jahrzehnte währte - daher die besondere Brutalität. Durch die vergleichende Darstellung der staatssozialistischen Hungerkatastrophen kann man diesem Ansatz indes noch Neues abgewinnen. So ordnet Wemheuer die Hungersnöte unter Stalin und Mao in den größeren historischen Zusammenhang der industrialisierten Moderne ein, indem er etwa auf die Zahl der verhungerten Menschen unter der britischen Königin Victoria (1819-1901) verweist: In den britischen Kolonien Indien und Irland seien den niedrigsten Schätzungen zufolge mehr Menschen an Hunger verstorben als in der Sowjetunion. Keineswegs sei dies relativierend gemeint, betont der Autor, denn Stalin und Mao hätten Millionen von Menschenleben retten können, hätten sie die schließlich doch vollzogenen Politikwechsel je ein Jahr früher in die Wege geleitet.

Felix Wemheuer: Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao. Rotbuch, 256 S., 19,95 €.

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