nd-aktuell.de / 02.09.2013 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 10

Die wahre Wildnis

Steffen Schmidt

Mustangs und Indianer gehören zum Mythos des Wilden Westens der USA wie die Tulpen zu Holland. Die Mustangs und die Tulpen haben freilich noch eine zweite Gemeinsamkeit: Sie sind in ihrer heutigen Heimat Einwanderer. Doch während bei einem quasiindustriellen Gartenbauprodukt wie den niederländischen Tulpen kein Mensch auf den Gedanken käme, sie als Wildnis unter Naturschutz zu stellen, sieht das bei den vermeintlichen Wildpferden in den USA ganz anders aus. Dabei sind diese als Reittiere der spanischen Konquistadoren erst im 16. Jahrhundert von Europäern nach Amerika gebracht worden - fast zeitgleich wie die Tulpen nach Holland. Entwichene Pferde fanden in den weiten Prärien ideale Bedingungen vor und vermehrten sich prächtig. Rund 33 000 sind es heute, wie Robert A. Garrott von der Montana State University und Madan K. Oli von der University of Florida (beide USA) kürzlich im Fachjournal »Science« berichteten. Und verblüffenderweise stehen diese verwilderten Haustiere heute nach allgemeinem Konsens in den USA unter Schutz. In einem Land, wo über Jahrhunderte die Ureinwohner ermordet und die tatsächlich heimischen Bisons zu Tausenden zum bloßen Vergnügen abgeschossen worden waren.

Nun wäre das alles kaum mehr als eine Skurrilität, wenn die Kosten des Schutzprogramms für die Pferde nicht aus dem Ruder liefen und ihre Zahl nicht schon heute fast um ein Drittel höher wäre, als die Präriebiotope vertragen. Eine Expertengruppe des Nationalen Forschungsrates der USA geht davon aus, dass sich die Zahl der Tiere innerhalb von sechs bis acht Jahren verdreifacht, wenn das Schutzprogramm nicht verändert wird.

Nebenbei allerdings zeigt dieser Fall, dass die Vorstellung unberührter Wildnis in den meisten Fällen ein gedankliches Konstrukt von uns Menschen ist. Das zeigen auch immer wieder die Auseinandersetzungen um die Totalreservate innerhalb von Nationalparks hierzulande. Vielen Menschen fällt es sehr schwer hinzunehmen, dass sich die Natur, wenn man sie einfach lässt, oft in eine ganz andere Richtung verändert, als man es sich zuvor vorgestellt hat.