nd-aktuell.de / 07.09.2013 / Sport / Seite 2

Ungewissheit
 bis zuletzt

Wie das IOC abstimmt, ist auch bei der 
125. Session nicht einmal zu erahnen

Jirka Grahl

1800 Journalisten sind nach Buenos Aires gekommen, allein 900 aus Japan: Es ist eine historische Vollversammlung, die am Freitag im Hilton-Hotel begonnen hat. Zu drei wegweisenden Abstimmungen sind die 103 Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) bei ihrer 125. Session aufgerufen. Heute wird bestimmt, wer 2020 die Sommerspiele ausrichten darf (Istanbul, Madrid oder Tokio), am Sonntag aus drei Sportarten jene erwählt, die 2020 zum Wettkampfprogramm gehört (Baseball/Softball, Ringen oder Squash). Am Dienstag um 17.30 Uhr (MESZ) wird unter sechs Bewerbern der neue Präsident gekürt, der den Belgier Jacques Rogge beerbt. Rogge fungierte seit 2001 als Weltsport-Oberhaupt.

Was IOC-Abstimmungen so aufregend macht, ist nicht nur der riesige Hofstaat aus Lobbyisten, Sportverbandspräsidenten, und Regierungschefs, der sie stets umgibt, sondern vor allem die Ungewissheit: Die Gemengelage rund um die Abstimmungen ist derart komplex, dass es erstaunlich ist, dass britische Buchmacher überhaupt Quoten auf den Wahlausgang anbieten (hier führen übrigens Tokio 2020, Ringen und der deutsche IOC-Vize Thomas Bach).

Die Liste der überraschenden Wahlausgänge beim IOC ist ebenso lang, wie die Charaktere ihrer Mitglieder verschieden sind. Hier sitzen in einem Gremium Menschen wie FIFA-Chef Joseph Blatter (Schweiz), der Gründer der Welt-Antidoping-Agentur Richard Pound (Kanada), Ihre Durchlaucht Prinzessin Nora von Liechtenstein, Scheich Ahmad Al-Sabah aus Kuwait oder Ung Chang aus Nordkorea, Präsident des Internationalen Taekwondoverbandes. Naturgemäß spielen sehr unterschiedliche Motive eine Rolle bei der Stimmabgabe: hochpolitische, handfest nationale, sportartspezifische oder schlichtweg proporzbedingte.

Das Komitee ist seit seiner Gründung ein Hort der Netzwerker, neue Mitglieder werden nach dem Willen des Gründervaters Baron Pierre de Coubertin kooptiert, also von den alten Mitgliedern hinzugewählt. Coubertin wählte 1894 die ersten 15 Mitglieder kurzerhand aus seinem Bekanntenkreis, nur zwei kamen nicht aus Europa (USA und Argentinien), fünf gehörten zum europäischen Hochadel. Bis heute wirkten so viele Fürsten, Scheichs, Radschas, Khans und Prinzen im IOC mit, dass das Komitee in soziologischen Studien auch als »permanente Oligarchie« klassifiziert wird. Eine Nation spielt in dem universellen Komitee eine Sonderrolle: die kleine Schweiz, die mit fünf Mitgliedern derzeit die stärkste Nation im IOC bildet, wohingegen beispielsweise Indien nur ein Mitglied hat, China immerhin drei.

Das liberale Schweizer Vereinsrecht, die politische Stabilität im Herzen Europas lockten das IOC schon 1915 aus Paris nach Lausanne. Nach dem IOC folgten die Weltsportverbände: Fußball, Ski, Basketball, Tischtennis. Die politische Neutralität, das Polyglotte und die Diskretion, die den Eidgenossen seit jeher angedichtet werden, haben manchem Schweizer auf dem Weg ins IOC geholfen. Die Europäer (darunter die beiden Ex-Fechter Thomas Bach und Claudia Bokel als deutsche Vertreter) sind im IOC am stärksten vertreten, Asien hat dagegen nur etwa halb so viele Stimmen wie Europa. Auffällig stark vertreten ist aber die Golfregion: Saudi-Arabien, Oman, Kuwait, Katar, Vereinigte Arabische Emirate verzeichnet die Mitgliederliste des IOC - die Länder, in denen Öl und Gas sprudeln, scheinen auch eine Menge geeignete Wahrer der Olympischen Bewegung hervorzubringen.

Die heutige Abstimmung über die Olympiastadt wird ein erster Fingerzeig, wohin sich das IOC entwickelt. Gewinnt etwa Madrid, die schon ohne Olympia mit acht Milliarden Euro verschuldete spanische Hauptstadt? Es wäre ein Anzeichen dafür, wie viel Macht die alteingesessenen Strippenzieher beim IOC noch haben. Denn die spanische Bewerbung, übrigens die dritte in Folge, ist ein Lieblingsprojekt des verstorbenen früheren IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch. Der stand nicht nur wegen seines Ministeramtes unter Diktator Franco und der totalen Kommerzialisierung der Spiele stets in der Kritik, sondern galt auch als besonderer Förderer der Günstlingswirtschaft. Mittlerweile sitzt sein Sohn Juan Antonio Samaranch jr. im IOC.

Oder wird Tokio trotz der ungelösten Probleme am Havariemeiler Fukushima zum zweiten Mal nach 1964 Olympia ausrichten? Die Bewerbung gilt als herausragend, und angesichts der riesigen weißen Flecken in Asien auf der Olympia-Landkarte entspräche es der IOC-Logik. Selbst eine Wahl von Istanbul wäre - trotz prügelnder Polizisten im Gezi-Park - keine Überraschung. So etwas beirrt das IOC nicht unbedingt.

Entscheidend sollen angeblich wieder einmal die Schlusspräsentationen werden. Die Ministerpräsidenten Mariano Rajoy, Shinzo Abe und Recep Tayyip Erdogan werden direkt vom G20-Gipfel nach Buenos Aires einfliegen.