Die Entdeckung der Langsamkeit

Neue Erzählformen in TV-Serien

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 4 Min.

Eine Binsenweisheit unter Musikern und Komponisten: Wichtiger als die Noten, die man spielt, sind jene, die man nicht spielt. Die Pause macht die Musik - eine Erkenntnis, die vielen Kino-Regisseuren, -Autoren und -Produzenten abhanden gekommen ist. In TV-Serien wie »House of Cards«, »Boardwalk Empire« oder »Breaking Bad« kommt das Prinzip wieder zur Anwendung.

»Life is, what happens, while you›re busy making Plans«: Das wahre Leben spielt sich jenseits der großen Pläne ab, wie John Lennon wusste. Übertragen auf die TV-Formate bedeutet das im besten Fall, dass den meist von Thrillerelementen dominierten Plots ein mindestens ebenbürtiger Drama-Anteil beigefügt ist - eine in dieser Tiefe bisher ungekannte Charakterentwicklung. Und dass sich eingangs erwähnte Pausen genehmigt werden: Für die Handlung »unwichtige« Umwege, interessante Nebencharaktere, falsche Fährten oder Ticks der Hauptdarsteller. Dieses Eintauchen ins Private der Protagonisten oder die Labyrinthe geschichtlicher Begebenheiten lässt die neuen Bildschirmhelden wie freundschaftliche Begleiter und alte Bekannte erscheinen.

So wächst einem in »Boardwalk Empire« nicht nur der Mafia-Politiker Nucky Thompson ans Herz. Der Betrachter taucht ein in ein detailreiches historisches Panoptikum, in dem die Prohibition kein reines Gangster-Terrain bleibt. Die Tugendwächterinnen der Suffragetten werden ebenso plastisch wie der männerdominierte Mikrokosmos einer vom Alkoholgeld vergifteten Stadtverwaltung.

»House of Cards« ist mehr als ein dank genüsslichem Zynismus erfrischend realistisches Porträt des Washingtoner Politbetriebs. Denn man teilt mit Protagonist Frank Underwood sowohl die skrupellosen Machtspiele, als auch die Zigarette danach oder öde Stunden vor der Playstation.

Im faszinierenden Genre-Klassiker »Breaking Bad« wird der Betrachter nicht nur Zeuge, wie der krebskranke Chemielehrer Walter White sich zum abgebrühten Drogenkoch und Dealer entwickelt. Ebenso kehrt man immer wieder in sein enges Heim zurück oder langweilt sich mit ihm in drögen Arztwartezimmern.

In guten TV-Serien sieht man auch jene Dinge wieder, die Menschen tun, wenn sie nicht alle zehn Minuten einer schicksalhaften Entscheidung gegenüberstehen: Sie rauchen, sie fluchen - und sie haben viel Sex, der ungefiltert und ausgiebig gezeigt wird.

Solche Erzähltiefe wurde den Serien erst durch den Abschied vom Prinzip der Nummernrevue möglich. Seit gut zehn Jahren werden fortlaufende, ausufernde Geschichten erzählt und nicht mehr die wöchentlich wechselnden, in der jeweiligen Episode beginnenden und endenden Anekdoten.

Als Meilenstein und bis heute unangefochtener Genre-Leuchtturm ist das Polizei- und Gesellschaftsdrama »The Wire« von 2002 anerkannt.

Und die Deutschen? Die sind künstlerisch noch nicht in der Lage nachzuziehen, haben aber immerhin Bedarf und Potenzial erkannt. So widmet sich dieser Tage der Medienkongress der Internationalen Funkausstellung intensiv dem Thema US-Serie.

Zur Ehrenrettung der heimischen TV-Produzenten sagte Jörg Graf, Bereichsleiter für Produktionsmanagement und Programmeinkauf bei RTL, in einem Interview, die Europäer hätten eine selektive Wahrnehmung, da sie nur die erfolgreiche Spitze des TV-Eisbergs aus den USA sehen würden. Wer den Gesamtmarkt kenne, wisse, dass auch die US-Studios jedes Jahr viele Projekte vorstellten, die weder attraktiv noch innovativ seien, und die schnell wieder abgesetzt würden.

Zu sehen war »Breaking Bad« bei uns auf Arte, während viele andere Serienperlen nur auf dubiosen Pay-TV-Kanälen laufen. Und natürlich auf halblegalen Streaming-Seiten, die die neuesten Episoden spätestens einen Tag nach der Erstausstrahlung präsentieren. Auch als Reaktion darauf wurde »House of Cards« nur im Internet und gleich im kompletten Serienumfang bereitgestellt.

Wenn aber alle Folgen einer stundenlangen Serienstaffel auf einen Schlag verfügbar sind, entfällt auch die tagelange Wartezeit zwischen den Sendungen. Durch die neue Serienkultur entstehen also nicht nur Pausen, es verschwinden auch welche. Auf kommerziellen Download- und Streamingseiten wie Netflix oder SideReel bleibt man nicht nur von Werbeunterbrechungen verschont. Als fatale Folge sahen sich viele US-Bürger die Intrigen im »House of Cards« komplett an einem Wochenende an. »Binge Watching« nennen die US-Amerikaner dieses tagelange Marathon-Glotzen.

US-Kritiker fühlen sich angesichts des Phänomens bereits bemüßigt, »Anti-Binge-Regeln« zu verfassen: So wird der tiefere Sinn der »Cliffhanger«, also der brutal unterbrochenen Spannungsbögen zum Episoden-Ende erläutert. Oder es wird empfohlen, Serienhelden wie Freunde oder Partner zu behandeln: Mit denen würde man sich auch nicht rund um die Uhr umgeben, um sie dann nie wiederzusehen.

Man dosiere den Umgang, um es auch über Jahre mit ihnen aushalten zu können. Ein guter Ratschlag, den viele Paare allerdings schon seit Jahrhunderten in den Wind schlagen.

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