Anarchismus im Dialog

  • Bernd Hüttner
  • Lesedauer: 3 Min.

Angesichts der Occupy-Bewegung wird in der einschlägigen Literatur schon von einer »Renaissance des Anarchismus« gesprochen. Blogbeiträge, Broschüren und Bücher des anarchistischen Spektrums sprießen jedenfalls munter hervor. Doch was ist heute genau gemeint, wenn von »Anarchismus« die Rede ist? Der eines Landauer oder Bakunin des vorvorletzten Jahrhunderts, derjenige des spanischen Bürgerkrieges, ein moderner oder gar »postmoderner« des beginnenden 21. Jahrhunderts? Sicher ist: Auch heute noch sind Kooperation, Föderalismus, Räte und vor allem Selbstermächtigung integrale Bestandteile anarchistischer Theorie und Praxis.

Der kürzlich mit dem Erich-Mühsam-Preis 2013 ausgezeichnete Verlag Edition AV im hessischen Lich versucht in seinen Publikationen den Spagat zwischen älteren Positionen und neuen, etwa von Jürgen Mümken vertretenen Lesarten. Philippe Kellermann streitet unermüdlich gegen die Geschichtslosigkeit des Anarchismus und für einen Dialog anderer linker Theorietraditionen mit diesem. In seinem neusten Buch hat er zehn Männer und eine Frau interviewt, die für einen modernen, reflektierten Anarchismus stehen - und nicht zuletzt entscheidend dazu beitragen, diesen herauszubilden. Der zur Arbeiterbewegung forschende Torsten Bewernitz etwa hält die »gegenseitige Hilfe für den Kern« des Anarchismus. Der wie Bewernitz in der Münsteraner Anarcho-Szene sozialisierte und jetzt in Wien lebende Jens Kastner sagt, Politik sei das Aufbrechen des Gewohnten und der Umstand, dass Menschen sprechen und agieren, die sonst stumm sind.

Gabriel Kuhn weist darauf hin, dass »Anarchie« nicht bedeute, keine Gesetze zu haben, sondern heute heißen müsse, keine Gesetze zu benötigen. Der schon erwähnte Kastner macht noch einmal die postmoderne Kritik an einem vorgestellten »Wir« stark. Die vielzitierten »99 Prozent« hätten eben nicht zwangsläufig auch nur tendenziell gleiche Interessen. Fraglich ist, und diese Debatte ist noch nicht entschieden, ob mit der Entdeckung immer neuer Differenzen, die sonst, auch von Kastner, scharf kritisierte neoliberale Weltsicht, es gebe nur noch Individuen, übernommen wird. Offen ist also, wie der Anarchismus auf die Herausforderungen durch die Postmoderne reagiert. Was bedeutet es eigentlich, wenn festgestellt wird, dass der Staat der Gesellschaft nicht äußerlich ist, sondern die gesamte Ordnung der Gesellschaft staatlich organisiert ist? Reicht es dann noch den Staat mit Kategorien wie »Ausbeutung« und »Unterdrückung« zu kritisieren, oder muss nicht vielmehr die Frage nach der »freiwilligen Knechtschaft« aufgeworfen werden? Bestandteil dieser Debatte ist zweitens die Neubewertung historischer Vorgänge, etwa im Verhalten der spanischen anarchistischen Gewerkschaft CNT. Dabei stößt man schnell auf die Tatsache, dass auch im Anarchismus Mythen existieren, die eine kritische Beschäftigung erschweren.

Stellenweise ist das Buch zu detailverliebt und dann etwas weitschweifig. Das Layout mit zu wenig Zeilenabstand erschwert leider die grundsätzlich lohnende Lektüre. Das Buch reizt also auf den ersten Blick zum abgedroschenen Bonmot »Anarchismus? - Eher mühsam!«. Doch dann zeigt sich, dass sich durchaus ein zeitgemäßer Anarchismus herausbildet. Mit dem dann auch andere linke Traditionen in einen fruchtbaren Dialog treten könnten - und sollten. Einen Dialog, durch den alle Beteiligten etwas lernen könnten.

Philippe Kellermann (Hrsg): Anarchismusreflexionen. Zur kritischen Sichtung des anarchistischen Erbes. Verlag Edition AV, 2013, 263 Seiten, 17 Euro.

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