nd-aktuell.de / 12.09.2013 / Politik / Seite 5

»Ministerposten sind für uns nicht entscheidend«

Katja Kipping spricht über rote Haltelinien für ein Mitte-Links-Bündnis und über Zukunftspläne der LINKEN

Katja Kipping (35) wurde im Juni 2012 zur Vorsitzenden der LINKEN gewählt, die sie seitdem gemeinsam mit Bernd Riexinger anführt. Die frühere sächsische Landtagsabgeordnete sitzt seit 2005 im Bundestag. Über Koalitionsdebatten und das Zeitmanagement einer vielbeschäftigten Mutter sprach mit ihr Aert van Riel.

nd: Frau Kipping, wann sind Sie das letzte Mal in einem Interview nicht nach einer möglichen rot-grün-roten Koalition gefragt worden?
Kipping: Ich kann mich schwer daran erinnern. Konstellationsdebatten üben eine Faszination auf Medien aus. Ich meine jedoch, spannender als die Frage, wer mit wem zusammengeht, ist die Frage, was man verändern will.

Die Bündnisdebatte wird von der LINKEN forciert. Diese bietet sich unter bestimmten Bedingungen SPD und Grünen an. Können Sie es verstehen, wenn der SPD-Politiker Thomas Oppermann deswegen von »Stalking« spricht?
Wir forcieren die Debatte nicht, sondern werden dazu gefragt. Für uns sind nicht Ministerposten entscheidend, sondern Inhalte. Wer unsere Stimme haben möchte, der muss unterschreiben für Mindestlohn, sanktionsfreie Mindestsicherung, Mindestrente, Millionärssteuer und eine friedliche Außenpolitik. Ich würde mir wünschen, dass sich SPD und Grüne zu diesen Inhalten positionieren, anstatt sich wie Thomas Oppermann in Hobbypsychologie zu probieren.

Wenn SPD und Grüne nach der Wahl überraschend über ein Mitte-Links-Bündnis verhandeln wollen, stehen dann in der LINKEN Konflikte um Haltelinien und Mindestbedingungen ins Haus?
Im Wahlprogramm haben wir dazu klare Aussagen getroffen. Das ist in der Partei Konsens. Es gibt rote Linien, die wir nicht überschreiten. Dazu gehören Kampfeinsätze, Sozialabbau, Privatisierung und Politik, die die öffentliche Hand handlungsunfähig macht. Bernd Riexinger und ich haben ergänzt, dass wir nicht nur das Schlimmste verhindern, sondern auch etwas verändern wollen.

Haben Sie sich das TV-Duell im Fernsehen angeschaut?
Ja. Ich musste am vorletzten Sonntagabend sehr gegen Müdigkeit ankämpfen. Aus meiner Sicht war es ein Unentschieden zwischen Merkel und Steinbrück. Ein Null zu Null. Für meinen Geschmack hat keiner der beiden eine wirklich spannende politische Alternative benannt.

Auch viele Beobachter sprechen vom langweiligen Wahlkampf. Warum gelingt keine Zuspitzung?
Grüne und SPD haben mit ihrer Ausschließeritis vor der Wahl einen großen Fehler begangen und damit eine Jobgarantie für Angela Merkel ausgesprochen. Deswegen gelingt es auch nicht, deutlich zu machen, dass es eine Alternative zur Politik der schwarz-gelben Bundesregierung nicht nur konzeptioneller Art gibt, sondern die auch politisch umsetzbar ist.

Die LINKE argumentiert, dass durch ihre Forderungen SPD und Grüne gezwungen werden, soziale Themen aufzugreifen. Warum ist das bei Hartz IV nicht der Fall?
Es ist ein ernsthaftes Problem, dass Menschen in schwieriger wirtschaftlicher Lage dazu neigen, nicht zur Wahl zu gehen. Leider wird dies von den anderen Parteien nicht als Protestschrei interpretiert, sondern als eine Bestätigung, dass man sich nicht um diese Menschen kümmern muss, weil diese ohnehin nicht wählen gehen. Um so wichtiger ist es, dass gerade Menschen mit geringen Einkommen sich einmischen.

Warum spielen der Klimawandel, die kapitalistische Krise und die globale Verteilungskrise im Wahlkampf keine Rolle?
Das liegt auch an Mythen der Herrschenden. Ein Mythos lautet auf die Erwerbslosigkeit bezogen: Wer sucht, der findet. Ich halte dagegen, dass die hohe Erwerbslosigkeit mit der kapitalistischen Wirtschaftslogik zu tun hat. Auf eine offene Stelle bei der Bundesagentur kommen im Durchschnitt acht Erwerbsarbeitssuchende. Wir LINKE haben zudem immer wieder darauf hingewiesen, dass es der Kapitalismus nicht schafft, Menschen vor dem Hungertod zu retten. Die von Ihnen genannten Themen werden von uns als LINKE stark gemacht.

Wenn es zu einem Angriff der USA auf Syrien kommen sollte, fordert die LINKE eine Sondersitzung des Bundestags, um über die in der Türkei stationierten Patriot-Raketen abzustimmen. Mit ihrer Ablehnung würde die Linksfraktion wohl wieder alleine dastehen.
Den Rückzug von Patriot-Raketen fordern wir seit längerem. Wenn es zu Angriffen kommen sollte, könnte schnell ein Flächenbrand entstehen. Dann könnten die Patriot-Raketen zum Einsatz kommen und Deutschland wäre Kriegspartei. Das ist nicht durch das bisherige Mandat gedeckt. Wie sich die anderen Parteien dazu positionieren werden, bleibt abzuwarten. Bisher haben sie unsere antimilitaristischen Anträge abgelehnt. Wir wollen, dass sie vor der Wahl Farbe bekennen. Ich finde es unerträglich, dass sich die SPD vor der Wahl friedenspolitisch engagiert gibt und danach, wenn es darum geht, eine Einsatzverlängerung abzusegnen, mit fliegenden Fahnen zustimmt.

Sie sind seit 15 Monaten LINKE-Vorsitzende. Haben Sie die Entscheidung schon mal bereut?
Nein. Es läuft gerade sehr gut. Es gibt eine gute Zusammenarbeit mit Bernd Riexinger, Matthias Höhn und dem geschäftsführenden Parteivorstand.

Die Partei galt als zerstritten.
Wir haben gelernt, uns auf gemeinsame Punkte zu fokussieren und nicht auf Dinge, bei denen wir unterschiedlicher Meinung sind.

In der Öffentlichkeit wird in der LINKEN unterschieden zwischen Fundis, Reformern, Ost und West. Entspricht das der Realität?
Es gibt auch innerhalb des Ostens soziokulturelle Unterschiede, z. B. zwischen Jugendlichen, die sich am CSD beteiligen und den aktiven Senioren in der Volkssolidarität. Und diese Vielfalt bereichert uns. Ich möchte also nicht über das reden, was uns trennt, sondern was uns eint. Die Vorurteile sind falsch. Die SPD versucht, den Eindruck zu erwecken, im Westen seien die LINKEN nur Sektierer. Das stimmt nicht. In Kassel, in Hessen bietet die LINKE etwa mit dem Sozialatlas für Menschen mit geringem Einkommen konkrete Lebenshilfe.

Sie haben sich die Frage gestellt, ob Sie Politik und Privatleben miteinander ohne schlechtes Gewissen vereinbaren können. Wie fällt die Antwort einer jungen Mutter nun darauf aus?
Man muss lernen, Nein zu sagen und Arbeitsteilung zu praktizieren. Ich möchte schon jeden Tag mehrere Stunden mit meiner Tochter verbringen. Es gibt aber auch Ausnahmen. Im Wahlkampf gibt es zwei Tage in der Woche, an denen ich unterwegs bin und sie überhaupt nicht sehe. Ansonsten plane ich mir das einfach fest ein. Das ist auch für andere junge Eltern ein Signal, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren.

Haben Sie Kontakt zu Oskar Lafontaine?
Bernd Riexinger und ich haben eine gute Kommunikation mit Oskar Lafontaine.

Sind Sie zufrieden mit seinem Engagement? Er tritt nicht im Saarland auf, sondern vor allem in Nordrhein-Westfalen.
Ich freue mich über jeden Auftritt von ihm, da er für die LINKE punktet.

Ihre Wahl war auch als Signal gesehen worden, dass die LINKE stärker auf soziale Bewegungen zugeht. Ist das geglückt?
Wir hatten schon immer eine enge Zusammenarbeit. In der Fraktion gibt es eine Kontaktstelle für soziale Bewegungen. Bernd Riexinger und ich haben zudem den Bewegungsratschlag ins Leben gerufen, wo wir uns mit verschiedenen Bewegungsaktionen treffen. Dort inspirieren wir uns gegenseitig. Ein gutes Beispiel für eine Zusammenarbeit ist etwa die Blockupy-Demonstration. Es ist wichtig, dass die LINKE in Hessen wieder in den Landtag kommt. Alle Abgeordneten waren an der Blockupy-Demonstration beteiligt und haben danach als einzige Fraktion im Landtag auf Aufklärung der Vorgänge gedrängt.

Die Umfragen sehen die LINKE in Hessen derzeit knapp unter fünf Prozent. Woran liegt das?
In Hessen tun wir alles dafür, um wieder in den Landtag zu kommen. Unsere Leute sind sehr umtriebig. Sei es der Kampf gegen Fluglärm, die Unterstützung von Betriebsräten bei Burger King oder die Unterstützung von Erwerbsloseninitiativen. Ich freue mich darauf, der Spitzenkandidatin Janine Wissler am Wahlsonntag zum Wiedereinzug zu gratulieren.

Das klingt nach einer Prognose fünf Prozent plus X in Hessen. Wie fällt Ihre Prognose für die Landtagswahl in Bayern aus?
Bayern ist etwas komplizierter. Dort waren wir auch nicht im Landtag. Allerdings gilt auch in Bayern: Nichts ist unmöglich! Ich habe mich bisher immer geweigert, Prognosen in Zahlen zu treffen. Prognosen sind bekanntlich schwer zu treffen, vor allem für die Zukunft. Deswegen kann ich für Bayern und Hessen keine Zahlen prognostizieren.

Für die Bundestagswahl hat der LINKE-Vorstand aber vor kurzem das Ziel ausgegeben, ein zweistelliges Ergebnis zu erreichen.
Wir haben gesagt, wir wollen so nahe wie möglich an das Ergebnis von 2009 herankommen. Als der neue Parteivorstand gewählt wurde, lagen wir bei etwa fünf Prozent. Angesichts dieser Ausgangslage wären auch sieben oder acht Prozent eine solide Basis und ein wirklich gutes Ergebnis. Weil wir in Umfragen zweimal bei zehn Prozent lagen, haben wir zur Motivation in der heißen Wahlkampfphase gesagt, dass wir nun die Zweistelligkeit anstreben.

Wie wichtig sind die Landtagswahlen für das Projekt gesamtdeutsche LINKE, nachdem die Partei aus mehreren Landtagen im Westen herausgewählt wurde?
Natürlich sind beide Landtagswahlen wichtig. Aber die LINKE ist auch unabhängig vom Ergebnis eine gesamtdeutsche Partei. Wir bieten im gesamten Land eine soziale und friedliche Alternative zur herrschenden Politik.

Nach der Wahl ist vor der Wahl. Worüber wird die LINKE nach dem 22. September debattieren?
Wir wollen eine Offensive starten, dass mehr jüngere Menschen und Frauen bei uns mitmachen. Für diese brauchen wir Andockstellen in der Partei. Denkbar wäre auch ein Zukunftskongress, bei dem wir den Wandel der Arbeitswelt, aktuelle Formen von Streiks und Widerständigkeit diskutieren. Zudem muss die LINKE das Thema Arbeitszeitverkürzung stärker bearbeiten. Denn die Zunahme von stressiger Arbeit macht die Menschen krank.