nd-aktuell.de / 14.09.2013 / / Seite 23

Der Verzweiflung nahe ...

Jonny Granzow erforschte den spektakulären Ausbruch aus dem Gefängnis Castres in Vichy-Frankreich vor 70 Jahren

Karlen Vesper

Atemlos lauschte das Kind den Geschichten des Großvaters. Fast neidisch auf dessen abenteuerliches Leben in einer Zeit, die aufregender schien als die gegenwärtige. Großvater erzählte, wie er einen Goldschatz den Faschisten vor der Nase weggeschnappt, durch die Pyrenäen kutschiert und über die Weltmeere nach Moskau begleitet hatte. »Denn er gehörte dem spanischen Volk, nicht Franco.« Ende der 70er Jahre erschien in der Zeitung eine kurze Meldung über die Rückgabe des Schatzes an Madrid. Großvater schnitt die Notiz sorgfältig aus und legte sie in ein Buch über den Krieg.

Nicht minder spannend für das Kind die Berichte des Großvaters, wie er einst in ein Gendarmeriebüro eindrang und mit vorgehaltener Makarow Blankoausweise kassierte - für Menschen im Untergrund. Oder Wehrmachtszüge überfiel und Todeskandidaten befreite. Jahrzehnte später erfuhr die Enkelin von einem nunmehrigen Kollegen, dem Journalisten Gerhard Leo: »Dein Großvater rettete mir das Leben.«

Die Geiseln des Marschall Pétain

Fragen, die zu Lebzeiten Wissenden nicht gestellt wurden, bleiben für immer unbeantwortet. Zum Schatz der Erinnerungen an den Großvater gehört auch ein spektakulärer Gefängnisausbruch. Wie ist es dazu gekommen? Die Antwort weiß Jonny Granzow. Die Befreiung von 35 Antifaschisten aus den Klauen der Kollaborateure hat er in weitestmöglicher Präzision nachgezeichnet. Der Publizist hat begab sich auf die Spuren seines Onkels, den 1909 in Berlin geborenen Nazigegner Kurt Granzow, in Spanien Mitglied der Internationalen Brigaden. Im September 1942 war er ins südfranzösische Gefängnis Castres als Häftling Nr. 77 interniert worden. Im November 1942 vom Vichy-Regime an die Gestapo ausgeliefert, wurde er im Folgejahr in Berlin-Plötzensee ermordet.

1998 weilte Jonny Granzow zum ersten Mal in Castres. Das ehemalige Gefängnisgebäude ist zu einem Jugendzentrum umgebaut. Die Einwohner des mittelalterlichen Städtchens im Département Tarn wussten lange nicht, dass Marschall Pétain hier »gefährliche Ausländer« versteckte. Unter den ersten, 1941 ins Geheimgefängnis von Castres eingelieferten 14 Antifaschisten waren zwölf Deutsche. Insgesamt konnte Granzow 146 Namen von Häftlingen aus 17 Nationen ermitteln - »Widerstandskämpfer im weitesten Sinne«: Interbrigadisten, Résistancekämpfer, Angehörige von Nachrichtendiensten der Alliierten, britische und US-amerikanische Piloten, die über Frankreich abgeschossen worden sind ... Sie waren Geiseln der vorgeblichen Neutralität des Vichy-Staates, des vergeblichen Spagats von Marschall Pétain zwischen den Westalliierten und Hitlerdeutschland.

Granzow hat die Archive aufgesucht, akribisch Akten studiert. Er zitiert aus Briefen und Erinnerungen der Häftlinge, die Hunger, Kälte und Einsamkeit plagten. »Man gibt uns nichts, einfach nichts, doch, zweimal am Tag Suppe, das heißt zwei Teller fettes Wasser ... Seit 15 Tagen sterbe ich vor Hunger«, heißt es in einem mit den Initialen C.D. signierten Brief vom Dezember 1942. Weitere von Granzow ausgegrabene Dokumente berichten über schikanierende Aufseher und »Sonderbehandlung«. Obwohl die südfranzösische »Fremdenpolizei« das Gefängnis in Castres geheim zu halten versuchte, drang doch Nachricht von dessen Existenz in Welt. Der nach Mexiko emigrierte deutsche Antifaschist Erich Jungmann bat Eleanor Roosevelt, Gattin des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, sich für die in Castres gefangen gehaltenen KPD-Reichstagsabgeordneten Franz Dahlem, Heinrich Rau und Siegfried Rädel sowie den Schriftsteller Rudolf Leonhard einzusetzen. In Großbritannien unterzeichneten 350 Menschen, darunter 98 Parlamentsabgeordnete und 40 Mitglieder des Oberhauses, eine Petition für die Freilassung von Dahlem, den italienischen Kommunisten Luigi Longo und andere. Auch die Hilfsorganisation Unitarian Service Comitee des US-amerikanischen Diplomaten Noel H. Field versuchte, etwas für die Häftlinge in Castres zu tun.

Schon 1942 gab es vereinzelt erfolgreiche Fluchtversuche, vornehmlich von Franzosen. Die internationale Gemeinschaft der Spanienkämpfer in Castres, zu der die Deutschen Heinz Priess und Ernst Buschmann gehörten, wagten drei Anläufe. Mit heimlich selbstgefertigten Strickleitern wollten sie die Mauern ihres Kerkers überwinden. Doch stets geschah Unvorhergesehenes. »Wir waren der Verzweiflung nahe«, schrieb Priess in seinen Erinnerungen »Spaniens Himmel und keine Sterne«. Granzow kann die Angst nachempfinden, »den Wettlauf zwischen der Gefahr einer Auslieferung an die Gestapo und dem Gelingen der Flucht zu verlieren«. Hilfe von außen war dringend notwendig.

Ein Dichter stellt sich quer

Die Kommunikation erfolgte über mit unsichtbarer Tinte geschriebenen Nachrichten, in Zahnpastatuben oder Konservendosen versteckten Mitteilungen. Ein Stadtplan wurde »in eine Hose eingenäht ins Gefängnis geschmuggelt«, erinnerte sich Walter Vesper. Dem Wuppertaler, der sich nach dem Spanienkrieg der Résistance angeschlossen hatte, oblag in Lyon der Empfang und Weitertransport der Geflohenen. Dazu bedurfte es auch finanzieller Mittel. »Wir benötigten 20 000 bis 25 000 Francs«, berichtete Vesper. »Eine französische Jugendgenossin, die als Sekretärin in einer Lyoner Ex- und Importfirma beschäftigt war und das Vertrauen ihres Chefs besaß, half uns bei der Beschaffung des Geldes. Der Inhaber der Firma, ein führender Mann der Résistance, war großzügig genug, mir die so dringend benötigte Summe ohne jede Sicherheit zur Verfügung zu stellen. Der französische Patriot wurde später von der Gestapo verhaftet und im Fort Montluc in Lyon umgebracht.«

Da zur Gruppe der Fluchtwilligen militärisch erfahrene Spanienkämpfer und alliierte Offiziere gehörten, war die Hoffnung auf einen erfolgreichen Coup nicht unbegründet. Aus alten Kartoffelsäcken fertigten die Verschworenen Stricke. Um ihre durch jahrelange Haft geschwächte Konstitution für den gewaltsamen Ausbruch zu kräftigen, nutzten sie den täglichen Freigang im Hof für körperliche Übungen.

Am 16. September 1943, 19 Uhr, war es dann soweit. Bevor die Häftlinge zur Nachtruhe in die Zellen getrieben wurden, tat jeder Eingeweihte, was ihm aufgetragen war. Innerhalb einer halben Stunde waren alle Wärter und der stellvertretende Gefängnisdirektor gefesselt und geknebelt. »Die Häftlinge waren Herren des Gefängnises.« 35 Mann konnten freilich nicht in Kolonne hinaus spazieren; zu zweit oder dritt begaben sie sich im Schutze der Nacht rasch zu den ihnen genannten Anlaufadressen. Einer indes stellt sich in letzter Minute quer. Rudolf Leonhard, 52 Jahre, Häftlingsnr. 15, wollte seine Gefängnismanuskripte nicht zurücklassen: 1500 eng beschriebe Seiten. Es gelang, den Dichter zu überreden. Man hinterließ am Manuskriptstoß einen Zettel mit der Bitte um Aufbewahrung bis zum Ende des Krieges. Fast ein halbes Jahrhundert nach Leonhards Tod entdeckt der Berliner Schauspieler und Regisseur Steffen Mensching die Manuskripte in einem Archiv und bringt sie in einer Auswahl unter dem Titel »In derselben Nacht. Das Traumbuch des Exils« heraus.

Im Oktober 1943 wurde das Geheimgefängnis geschlossen, die verbliebenen Häftlinge in andere Haftanstalten deportiert. Die Entflohenen schlossen sich der Résistance an. Alain Boscus, ehemaliger Direktor des Nationalen Zentrums und Museums Jean Jaurès in Castres, wurde von Jonny Granzow um viele neue Erkenntnisse und Einsichten bereichert, wie er im Vorwort zum zunächst in Frankreich erschienenen Buch bekundet. In der deutschen Auflage informiert Granzow über eine inzwischen beantragte Gedenktafel, die am Jugendzentrum in Castres an die spektakuläre Befreiungsaktion vor 70 Jahren erinnern soll. Sie mahnt: »Vergessen wir es nicht.«

Jonny Granzow: Der Ausbruch aus dem Geheimgefängnis in Castres. Eine historische Reportage. Edition Bodoni, Berlin. 259 S., br., 17 €.