nd-aktuell.de / 23.09.2013 / Kultur / Seite 16

Alters Ego

Martins Walsers Roman »Die Inszenierung«

Hans-Dieter Schütt

Ist doch klar, wie zu leben sei: träumen, wagen, kämpfen! Aber sieh dir mal deine Seele im Spiegel an, wenn von lockiger Lebenszeit eines Tages nur eine grausträhnige Frist blieb. Die Träume? Geblichen. Die Wagnisse? Eine bloß noch eitel klingende Anekdote. Die Kämpfe? Im Rückblick eine lächerliche Verausgabung.

Ach, wie du einst eingegriffen zu haben glaubtest; wie du verändern wolltest; wie du dich mit dem Furor der Unentbehrlichkeit in die Politik verstiegst. Und am Ende? Die Eingriffe finden, als ärztliche Reparaturpraxis, nur noch an dir selber statt; jede Veränderung erwies sich stets nur als Befestigung alter Verhältnisse. Und im Politischen ging dir doch nicht wirklich was auf, nein, du gingst unter; du hast merklich nichts gelöst, du hast dich doch im Grunde, unmerklich, aufgelöst - das Politische war die Fluchtdroge vor den Zumutungen wahren Geistes und wirklich fordernder Ideen. Utopie!, Sinn!, Gerechtigkeit!, Freiheit! - Zauberworte, erst feurig gesungen, dann aschig gesabbert. Leben, ein Aufbruch in den Abgesang. Und die einzig entscheidende Frage furchtsam gehaucht: Was bleibt?

Die jüngsten Romane des weit über achtzigjährigen Martin Walser gehen dieser Frage mit einer aufreizenden Konsequenz zur Reduktion nach: Denn was im Menschen bleibt, ist das, was schon immer den heimlichen Urgrund bildete - der Trieb, und der befindet sich in fortwährendem Spielkrieg oder Kriegsspiel mit der Kultur, diesen Trieb zu kostümieren.

Walser erzählt vom Begehren, und vor allem erzählt er von den komischen Anfällen, die das Begehren in hinfällig werdenden Körpern auslöst. Männlichen Körpern. Es geschieht Streckung, wo doch eher Krümmung herrscht. Es geschieht Straffung, wo sich längst Schlaffungsgebiete ausdehnen. Es geschieht Verhältnis auf Verhältnis, und dies im Gitter geordneter Verhältnisse. So sind Walsers Romane Erzählungen über das unvernünftige Gemisch aus überspannten Erwartungen, ewigen Verlockungen und einer lüsternen Vorfreude - die doch ihre Zugehörigkeit zur Gattung der Nachklänge nicht verbergen kann.

»Die Inszenierung« porträtiert den Theaterregisseur Augustus Baum, Krankenhauspatient nach Kollaps, verheiratet mit einer Nervenärztin, in Liebesstunden verstrickt mit der Nachtschwester Ute-Marie. Baum wurde aus Proben zu Tschechows »Möwe« gerissen. Dieses Stück als Gleichnis vom Künstler, dem jeder Mensch, dem jede Regung, dem jede Beobachtung Material ist. Walsers Kunst verknüpft auf brillante Weise die Privatstory mit Melancholien über den Kunstbetrieb, mit Bezügen zum Stück des Russen; das Erzählerische und der essayistische Assoziierstoff tanzen elegant ins Tiefe oder tänzeln ebenso leichtköpfig im Seichten. Der Roman hat keinen Erzähler, er ist konzentriert auf schnelle, spitze, verdichtete Dialoge (man hört die Dramaturgen der Theater schon lechzen).

Walsers in den letzten Jahren vollzogene Hinwendung zu verschiedenartigsten Lebensläufen der Liebe ist logischerweise auch eine Abkehr: von den scharf und genau gezeichneten Emanzipations- und Sozialleidenskämpfen des Kleinbürgers auf dem Egoistenmarkt. Ich gestehe für mich als Leser: ein Verlust. Wahrscheinlich ist er momentan der Dichter der Großväter, die sich gehoben wähnen, wenn sie mit ihrem Enkel daherkommen und als dessen Papa angesprochen werden. Ein augenzwinkernder Dichter jener Altersgeilen mit Rennradsucht und Tour de France-Gelüsten (Doping ist alles!). Irgendwie kleinformatig. Wenig welthaltig. Auf Jugendwahn, nicht alt zu werden, antwortet hier der Wahnglaube, nicht alt zu sein.

Aber sofort auch wieder Einspruch: Walser ist nämlich auf sehr eigene Art ehrlich. Er legt sie so rücksichtslos wie charmant, so provokant wie peinlich bloß: jene oben skizzierte Unterleibhaftigkeit des Lebens, die unsere Gattung möglicherweise kräftiger lenkt, als es deren Geistesgeschichte suggerieren will. Cäsar und Cleopatra. Der Präsident und die Praktikantin. Jason und Medea. Der alte Parteikämpe und die jüngere Funktionärin. Immer und ewig: die Hochfeier und der Horror der Hormone (oder ihrer Ohnmacht). Die Liebe als Kampffeld, auf dem Nähe zur Illusion schrumpft. Und die Welt ist also insofern doch tief drin im Gewebe des Romans, als sie bei Walser eben just das ist, was die meisten Beziehungen sind: ein Nichtheilwerden-Können, ein dauerhaftes Nichtgelingen.

Wo Walser blank die Liebe erzählt, erzählt er sie immerhin unerreichbar sprachschön, und stets findet er aus Betten geistvolle Wege in die geistige Erweiterung. Wenn etwa die Ehe als »Kunstwerk der Verheimlichung« bezeichnet wird oder wenn in Hintergehenspraktiken hineingefragt wird: »Warum wird der Betrug immer dem Betrüger übelgenommen, anstatt dem Umstand, der diesen Betrug erzwungen hat?« - dann meint das mehr als ein Zweipersonenstück; es erscheint hinter dem Fabulierer Walser so immer wieder der bewährte zeitkritische Bedenker. Rückkehr des Autors zu seinen durchgehaltenen Themen: Da ist das »Rechthabenwollen« in der Öffentlichkeit - als »ein sehr bescheidener Bewusstseinszustand, wahrscheinlich nur eine Art unfeinere Herrschsucht«. Da ist auch wieder das Leiden an der Geschichte, das im Spannungsfeld von Erinnern und dessen Instrumentalisierung (selbst noch in ehrenwertester Mahn- und Warnpraxis) nur neue gesellschaftliche Neurosen und Gleichgültigkeiten schafft. So dass der Traum wächst von wahrhaft reinigendem Umgang mit Vergangenheit: einem »moralischen Verstummen« aller. Dies in den Briefmund gelegt von Hans Georg, einem Freund von Augustus Baum, Ehemann und Homosexueller zugleich.

Walser postiert mit seinem Regisseur Baum die Revolution des Gefühlstrotzes an den Schwellen zum Alter. Dort, wo sich zur wachsenden Verzweiflung (junge Körper noch immer zu lieben, aber nicht mehr gemeint zu sein, wenn sie zurückblicken) die Lächerlichkeit gesellt. Walser erzählt, aber im Grunde entblößt er mit ironischer Vehemenz: Jeder Mensch ist zu alt für die Höchstform, die er vorgibt. Niemand hat wirklich die durchschlagsfähige Kraft, nach den Maßgaben seiner Sehnsüchte Realität zu missachten und Abhängigkeit in Freiheit zu wandeln. Nur das eine in das andere umzulügen, das geht. Die letzte Aussicht: »Leben in einem Garten. So unvorbildlich wie möglich! Aussteigen aus jeder Humanität. Die ist eingeteilt in Schläger und Geschlagene. Wer beides nicht sein will, muss für sich sein.« Oder solch glitzernde, greisengierige Romane schreiben.

Martin Walser: Die Inszenierung. Rowohlt Reinbek. 176 S., geb., 18,95 €.