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Wer glaubt, muss dran glauben

»Die Jungfrau von Orleans« von Friedrich Schiller am Deutschen Theater Berlin: Thalheimers Exerzitium

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Du glaubst, was nicht ist. Schön. Dann ist es. Schrecklich. Wer glaubt, der stemmte ja sogar den Himmel, selbst wenn der leer wäre. Bis bitterlich klar wird: Der Himmel ist leer, denn er ist ein Versprechen. Versprechen halten sich in der Welt, indem sie ihre Leere weitergeben - so aber wird immer noch mehr Glauben nötig. Denn wer glaubt, kann die Welt hinter sich lassen. Beste Voraussetzung, die Welt zu revolutionieren: Sie steht nicht im Weg. Der gute Gläubige ersehnt Sendung, der bessere Gläubige gibt Sendung weiter, der beste Gläubige ist Sendung. Johanna ist noch mehr, sie ist Gottes Sende-Antenne - die wird in ihren Händen zum Schwert, fürs gottlizensierte französische Gemetzel gegen England.

In Jeanne d'Arc, der in höherem Auftrag Schlachtenden, der blutigsten wie märchenhaftesten Feldherrinnen-Phantasien der Geschichtsliteratur, fand Friedrich Schiller die unwahrscheinlichste, unheimlichste, unfassbarste Gestalt für seine Themen: wie ein traumeisern behauptetes Ideal gnadenvoll alles Irdische übersteigt - aber alle Selbststeigerung dann, im gnadenlos Irdischen, ihren tödlichen Richter findet; wie verführter Wille und völkischer Wahn miteinander knutschen, wie Heiligenkult und unheilige Interessen es noch toller miteinander treiben. In schönster Sprache, klagendstem Pathos, dunkel rauschendstem Geist … Stopp, stopp!

Michael Thalheimer ist es, der da - mit seiner Inszenierung der »Jungfrau von Orleans« (Bühne: Olaf Altmann) am Deutschen Theater Berlin - »stopp« sagt. Er kann den Dreck des Krieges nicht erhaben denken, auch wenn Schiller die Feder führt. Kann nicht Poesie pinseln, wo ein Fanatismus erster Ordnung (Schlachtordnung) stattfindet. Er will nichts tönen lassen, wo ideologischer Furor waltet. Schillers Geistesbrennen, bei dem Johanna just mit ihren Wunden (die sie schlägt und selber hat) als eine Wunderbare leuchten darf? Nee, wir sind im 21. Jahrhundert. Wohnhaft in den Kühltürmen der Geschichte. Friedlich ausgeglüht. War kürzlich noch der Krieg kalt, so ist es jetzt der Frieden: bitte keine neue heiße Ikonographie der Tugend, der tollen Theorien, der Trotzkis, der Tribunale im Namen des Volkes, der Todesmute. T wie Terror. T wie Thalheimer: Das war auch an diesem Abend eine Entschiedenheit der Sicht, die bis zur schneidenden Eintönigkeit durchmarschierte, die mit Aggressivität vorgetragen wurde, mit Kraft zur Konsequenz - auch dort, wo (logisch!) Defizite entstehen mussten.

Die Jungfrau der Kathleen Morgeneyer steht fortwährend wie angewurzelt, im weißen, dann blutigen Kleidchen wie ein Gretchen, das »im Sünderhemdchen Kirchbuß tut«. Von einem einzigen Scheinwerferstrahl in unwirkliche Helle getaucht, wo ringsum doch Dunkel herrscht und alle Gestalten meist nur als diffuse Unwesen für ihre jeweiligen Verssekunden hervorkommen. Das Schwert in der einen Hand, die andere Hand leicht angehoben - es ist, als suche der schmächtige Johanna-Körper das richtende Kreuz, das sie einem Jesus näher brächte. Sie ist kein Jesus. Sie ist ein gefährlich traumatisiertes, gefährliches wie bedauernswertes Maschinenmädchen. Bellend, bebend. Die Morgeneyer vermengt Atmen und Sprechen, Schnaufen und Sprechen, Blicken und Glotzen, Brüllen und Bibbern zur beklemmenden Dauer der Fremdsteuerung. Sie wird in keiner Sekunde zum freien Genuss ihrer Mission finden, nein, sie steckt in ihrer siegschaffenden Kraft wie in einer Folter.

Verwandlung ist von Beginn an: Verurteilung. Das Martyrium des wahren Selbst-Mordes, aus dessen Vorstufen sich alle utopiegeladenen Bewegungen nähren: Ein Mensch hört auf, sich selbst zu gehören - lange nach Johanna nannte man das Parteilichkeit.

Grausame Romantik der hohen Idee - die nur wüten kann, wenn die Kämpferin unbefleckt bleibt von den Anfechtungen des Menschseins, der Liebe, des Mitleids. So dröhnt's durch die Zeiten. Auf, Kämpfer, schließt die Reihen - hinten kippen die zerstampften Toten zur Seite. Wo jemand meint, er sei von Gott ergriffen, hält er sich gern für ein höheres Instrument, nicht mehr für einen Menschen - die anderen auch nicht.

Diesen Gedanken will Thalheimer schnell zu Ende bringen und gestattet dem Stück doch immerhin zweieinviertel Stunden. Dem, was sich gern Distanz nennt, setzt er sich aus. Vor allem die Figuren, die der Welt, in der sie agieren, keine Mitte lassen. Das Elend der Extreme, die nur Angriff oder Angst kennen. Er nimmt damit - wir sind bei den Defiziten - einigen Szenen die poetische Zwingkraft, er macht zum Beispiel jene Begegnung Johannas mit dem Engländer Lionel (Alexander Khuon), die dem Mädchen die Panzerungen ums Herz aufsprengt, nicht wirklich aufregend. Und wo der sterbende Talbot in seinem Weltabschiedsmonolog einen der stärksten Momente des Schauspiels hat, da ist Markus Graf zu gepresst-beiläufigem Protokoll gezwungen. Talbot spricht doch aber stärkste Sätze der Tragödie: Weisheit kommt immer zu spät, und nur jener Geist ist Weisheit, der vom Sterben weiß, dass es - verdammt, verflucht! - stets das größere Thema bleibt als das Leben.

Christoph Franken ist König Karl. Pappkrone, Pelzrobe, ein schwabbeliges Flattern, ein von Liebe zu den schönen Künsten schwadronierendes Weichbild der Machtentsagung. Mir fällt Hans Magnus Enzensberger ein: Er nannte Gorbatschow eine Jahrhundertgestalt, weil er der »größte aller Verzichtspolitiker« war. »Ein Spezialist der Demontage beweist seinen moralischen Mut, indem er Zweideutigkeit auf sich nimmt.« Es ist dies die Zweideutigkeit jener totalen Ehrlichkeit (nämlich keine wahrhaft menschliche Chance für Macht mehr zu sehen), mit diesem Abschied von der Befehlsgewalt jedoch gleichzeitig zu riskieren, die gesellschaftliche Ordnung zu zerstören. Der Protagonist des Rückzugs ist der Politikertyp der Zukunft, aber er wird nie jemand sein dürfen, der seine Leistung geachtet ausleben darf. Der historische Abbruchunternehmer (siehe wieder Gorbatschow) unterminiert mit seiner Kühnheit stets die eigene Position. Die Dynamik, die er auslöst, wirft ihn beiseite. Könnte man diesen König Karl nicht auch ein wenig so sehen?

Thalheimer bleibt gemessen geradlinig - alles ist ihm düsterer Schrund für ein grobes dämmriges Exerzitium. Und ein Bühnenbild (ein kuppelartiger Rundhorizont), das gar kein Bild entwerfen soll - aber just dies erzählt des Regisseurs Welterschaffungstrieb: Wahre Welt ist nur dort zu schauen, wo sie aus Nichts ist. Wenn man denn mal den Mut hat, allen Überbau, all den Boden gelogener Tatsachen, all den Untergrund aus vermeintlichen Heilslehren wegzulassen.

Edvard Munchs Schrei. Ihm ist die großartig zähe, versteinerungsharte zarte Kathleen Morgeneyer sehr nah. Als Heilige hat ihre Johanna nicht gelebt, sondern nur gefochten; als endlich Erkennende, also als Lebende stirbt sie. Aber abwesend auch jetzt. Wer zu sich kommt, ist nicht besser dran als vorher - die Welt rast weiter. In der Jämmerlichkeit des Endes leuchtet nur immer eines auf - die Jämmerlichkeit dessen, was man in lebenslangem Glauben für Erlösung hielt.

Nächste Vorstellung: 5. Oktober

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