nd-aktuell.de / 05.10.2013 / Kultur / Seite 21

Digitale Nachhaltigkeit

Nicht nur mit natürlichen Ressourcen ist ein schonender Umgang geboten

Tom Mustroph

Längere Zeit hatte man sich in dem Glauben gewiegt, immaterielle Güter seien im Internet unendlich verfügbar, jederzeit zu vervielfältigen und überallhin zu verbreiten. Nur wenn die Monitore plötzlich schwarz wurden, sich das gewohnte Übertragungstempo verringerte oder die Balken, die die Stärke des Kommunikationsnetzes anzeigten, verschwanden, wurde dem gemeinen Nutzer bewusst: Hinter allem muss doch eine mächtige und weit verzweigte Infrastruktur stecken. Ohne Server, ohne Verbindungen, ohne Speichermedien und ohne Sortieralgorithmen wäre das digitale Immaterielle möglicherweise noch irgendwo auf elektromagnetische Wellen aufmodelliert, aber es wäre unauffindbar. Und damit letztlich nicht existent.

Dass die Welt der vermeintlich frei zirkulierenden Information zunehmend schnöden Kapitalgesetzen unterworfen ist, nimmt man im Netz in erster Linie über lästige Werbung wahr. Hier schafft immerhin der nach Open-Source-Prinzipien programmierte Werbeblocker adblock (adblockplus.org) bei den meisten Browsern Abhilfe. Ein anderer Hinweis auf das nicht ganz so freie Fließen sind die Bezahlschranken, die viele Anbieter von Inhalt und sogenanntem Inhalt in den letzten Jahren eingeführt haben - mit dem Argument übrigens, dass die Schöpfer dieser digitalen Inhalte besser entlohnt würden. Das meiste Geld bleibt indes bei den digitalen Vertriebsorganisationen hängen. Die Debatte um die Neugestaltung des Urheberrechts ist Ausdruck dieser Kämpfe.

Eher indirekt ist der Einfluss der Industrie darüber zu spüren, wie stark die Programme selbst das Nutzerverhalten formen - und wie wenig selbstbestimmt ein Nutzer ist, der nicht die Möglichkeit hat, in den Programmcode einzugreifen und Anpassungen in seinem Sinne vorzunehmen. Die Open-Source-Bewegung versucht dem mit offenen Programmcodes Abhilfe zu schaffen, die jeder, der des Programmierens mächtig ist, verändern kann. Die so erstellten Programme stehen dann der Allgemeinheit zur Verfügung und sind Objekt weiterer Bearbeitungen. Der Internet-Browser Mozilla, entstanden aus der Freigabe des Programmcodes von Netscape, und das Betriebssystem Linux sind die bekanntesten Beispiele.

Und nicht zuletzt ist der Einfluss des Digitalen auf das physisch-analoge Leben durch den Umgang mit den Daten deutlich geworden. Legal und illegal werden wir ausgeforscht. Abbilder unserer selbst kursieren als Kundenprofile für Groß- und Einzelhändler, für Versicherungen, Krankenkassen und Arbeitgeber. Und natürlich machen sich auch der Staat und seine Geheimdienste - siehe Prism - ein Bild von uns.

Digitale Dreiklassengesellschaft

In einer auf die heutige Informationsgesellschaft übertragenen Formel der Marxschen Klassengesellschaft sieht der Medienwissenschaftler Lev Manovich die Menschheit, abhängig von der jeweiligen Stellung der Einzelnen in den Datenproduktionsverhältnissen, in einer Drei-Klassen-Gesellschaft gefangen. Sie besteht aus simplen Datenproduzenten (jeder, der ein Smartphone besitzt, mit Kredit- oder Kundenkarten einkauft, an Social Media teilnimmt etc.), mächtigeren Datensammlern (Facebook, Telefongesellschaften, Kreditkartenorganisationen etc.) und der Oberschicht der Datenauswerter (Google, Geheimdienste, Unternehmen, die Nutzerprofile erstellen). Freilich steht auch die digitale Elite der Datenauswerter - die ihrerseits nicht auf den jetzigen Kreis beschränkt bleiben muss - vor dem Problem, wie sie die Daten verfügungsbereit organisieren und auswerten kann.

In dieser komplexen Gemengelage hat sich seit etwa einem Jahrzehnt das Konzept der digitalen Nachhaltigkeit als Versuch herauskristallisiert, mit den digitalen Ressourcen ähnlich schonend umzugehen, wie es die Nachhaltigkeit im ursprünglichen Sinne mit den natürlichen Ressourcen beabsichtigt. Die Kernprobleme der digitalen Nachhaltigkeit umfassen dabei den Zugang zu digitalen Wissensformen, die Transparenz ihrer Strukturen, Algorithmen und Anwendungen sowie die Speicherung und Bewahrung dieses Wissens.

Mit letzterem Problem beschäftigte sich über einen mehrmonatigen Forschungszeitraum das Berliner Internet & Gesellschaft Collaboratory (CoLab). Dies ist eine offene, hauptsächlich von Google Germany finanzierte Plattform sowohl von Google abhängiger als auch unabhängiger Experten. Dabei kristallisierte sich ein Entscheidungsdilemma heraus. Vertraut man Informationen einem möglichst haltbaren Medium an oder soll man auf viele und möglichst divers verteilte Kopien setzen, die ihrerseits immer neu kopiert werden?

Die Publizistin Kathrin Passig erinnerte bei einem Vortrag im CoLab an den Kirchengelehrten und Humanisten Johannes Trithemius, der 1494, also zwei Jahre nach Kolumbus’ erster Fahrt nach Amerika, darauf hinwies, dass man wichtige Dinge einem haltbaren Medium anvertrauen sollte. »Gedrucktes aber, da es auf Papier steht, wie lange wird es halten? Geschriebenes, wenn man es auf Pergament bringt, wird an die tausend Jahre Bestand haben«, zitierte Passig. Trithemius hielt 200 Jahre für die maximale Überlebenszeit eine Buches. Pikant ist nun aber, dass seine Bemerkung ausgerechnet in einem gedruckten Buch die Zeiten überlebt hat, während das materiell haltbarere Pergament verloren ist.

Die Formel der vielen Kopien erweist sich bei näherem Hinsehen aber auch nicht als zielführend, jedenfalls dann nicht, wenn man die E-Book-Praxis betrachtet. Der Inhalt elektronischer Bücher ist nur geleast. Fällt der Server des Verlags aus oder wird das Format nicht mehr unterstützt, sind diese Bücher nicht mehr lesbar.

Ein weiteres Problem stellen die Menge und die explosionsartige Vermehrung digitaler Information dar. Durchlief früher ein Gedanke, bevor ihm die Ehre des Gedrucktwerdens zuteil wurde, verschiedenste Reflektions- und Redaktionsstufen, so besteht die Welt der Foren und Postings zu großen Teilen aus dem digitalen Äquivalent von Klatsch und Tratsch. Höflicher ausgedrückt ist das Mündliche jetzt digital verschriftlicht. Was aber wählt man davon für die Archivierung aus? Und wie sortiert man es?

Die verdienstvolle Initiative archive.org, die Websites sichert, bevor sie abgeschaltet werden, hat als umfangreichsten Sammlungsbestand einen Schnappschuss des gesamten Internet vom Dezember 2006. Er umfasst etwa zwei Milliarden Webseiten. Das klingt viel - und ist doch sehr wenig. Geht man von der geschätzten Anzahl jener Webseiten aus, die allein von der Suchmaschine Google indiziert werden, so wurde im letzten Jahr die Spitze von 57 Milliarden erreicht. Gegenwärtig liegt die Größe des mit Google sichtbaren Netzes bei 40 bis 45 Milliarden Seiten. Mit der Zeitmaschine von archive.org sind also nur Informationssplitter zugänglich. Sie muten noch winziger an, wenn man sich die Dimension des sogenannten unsichtbaren Webs vor Augen führt. Es besteht aus Datenbanken, Intranetzen von Unternehmen und anderen nicht öffentlichen Websites und ist um ein Vielfaches größer als das durch Google und andere Suchmaschinen navigierbar gemachte Web. 2003, also ein Jahr vor Gründung von Facebook, ermittelte eine Studie der Universität von Berkeley den Umfang des sichtbaren Webs mit 197 Terabyte. Das unsichtbare Web hatte hingegen eine Informationsmenge von 91 850 Terabyte. Weltweite E-Mails waren - gezählt wurden nur die »Originale« - 440 000 Terabyte schwer.

Der Metasprachen-Kampf

Ist dieses Problem der Bewahrung des Informationsuniversums zumindest nach gegenwärtigem Stand schon nicht lösbar, so ist mittlerweile auch ein handfester Kampf um die Art der Verknüpfung dieser Informationen entbrannt. Duellanten sind die von den Suchmaschinenriesen Google, Bing und Yahoo entwickelte Metasprache schema.org und das vom stets die Freiheitsgrade in der Informationsarchitektur favorisierenden »Erfinders« des Web, Tim Berners-Lee, favorisierte Konzept von Linked Open Data.

Google-Kritiker Stefan Gradmann von der Katholischen Universität Leuven warnte ausgerechnet auf einer Tagung der von Google unterstützten CoLab-Denkfabrik davor, dass mit schema.org die Sprache des Web in »monopolistisches Eigentum« umgewandelt werden würde. Der Grundkonflikt zwischen Kathedrale (geschlossene Software-Architektur) und Basar (Open- Source-Entwicklung) ist damit auf die Konstruktionsebene des gesamten Web verlagert. Weil laut Gradmann Metasprachen festlegten, »was gesagt werden kann und welche Aussagen registriert werden«, kann man in schema.org sogar das Neusprech-Konzept aus George Orwells »1984« am Horizont heraufziehen sehen. Im Sinne einer Nachhaltigkeit, die Diversität als schützenswertes Gut im Auge haben sollte, wäre ein Siegeszug von schema.org wohl nicht.

Digitale Nachhaltigkeit ist bislang nur in Ansätzen ausgeprägt. Das mag daran liegen, dass den Menschen mit der sicht-, greif- und spürbaren Natur eine wesentlich längere Geschichte von Koexistenz, Symbiose, Ausbeutung und Kampf verbindet als mit der digitalen Umgebung. Da andererseits der Kampf für einen Schutz der Natur auch erst von einigen Aktivisten begonnen wurde, bevor dann hierzulande die CDU Umweltminister stellte und eine Ex-Umweltministerin dieser Partei sogar eine Abschaltung von Atommeilern durchsetzte, ist aber sowohl denkbar als auch zu wünschen, dass das Konzept der digitalen Nachhaltigkeit auf Dauer nicht nur bei jenen auf Resonanz stößt, die schon jetzt zur Open-Source-Gemeinde gehören. Denn sollte digitale Nachhaltigkeit sich perspektivisch nicht als Leitmotiv durchsetzen, könnten wir eines Tages tatsächlich als Konsumsklaven im Nur-Jetzt-Modus an unseren Endgeräten erwachen. Dann dürfte die digitale Schwerkraft zur Fußfessel werden.