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Buchfiguren verprügeln Schriftstellerin

Russische Autorin machte die Bewohner ihres Dorfes bei Kaliningrad ungefragt zu zwielichtigen Romanhelden

  • Axel Eichholz, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
Schriftstellerin Swetlana Wikari hat ein Buch über ihr Dorf bei Kaliningrad geschrieben. Sie ging davon aus, dass dort niemand an Literatur interessiert sei. Doch weit gefehlt.

Romanhelden beeindrucken den Leser. Den Autoren lassen sie zufrieden. Normalerweise. Im Fall der russischen Provinzschriftstellerin Swetlana Wikari haben sich die Helden ihres Romans gegen sie verbündet, um ihre Schöpferin das Fürchten zu lehren.

Wikari war aus Kasachstan nach Kaliningrad gezogen. Als Journalistin kam sie viel herum, lernte die Kinder jener Männer und Frauen kennen, die vor 65 Jahren hierher gekommen waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Region so gut wie entvölkert und wurde sodann für die Ansiedlung freigegeben. Später wurde das Gebiet abgeschottet. Daran änderte sich erst etwas nach der Öffnung in den 90er Jahren. Über das Leben im einstigen Sperrbezirk wollte Wikari ein Buch schreiben. Deshalb verließ sie vor einem Jahr Kaliningrad und ließ sich im 90 Kilometer entfernten Dorf Kaluschskoje nieder.

Unverblümt schilderte Swetlana Wikari das Leben ihrer Nachbarn. Als der aus Einzelgeschichten zusammengefügte Roman fertig wurde, veröffentlichte die Schriftstellerin ihn zunächst auf der Webseite Prosa.ru, um parallel dazu nach einem Verleger zu suchen. Sie hatte angenommen, dass von den rund 500 Dorfbewohnern keiner einen Internetanschluss besaß. Dem war aber offenbar nicht so. Die Nachbarn kamen einer nach dem anderen zu ihr mit der Frage: »Tante Swetlana, warum machst du mich in deinem Buch madig?« Die Autorin hatte die Vor- und Familiennamen geändert, die Spitznamen aber beibehalten. Sie waren einfach zu schön, um darauf zu verzichten. Die ans Internet Angeschlossenen lasen den Text und informierten die anderen Betroffenen.

Mit jeder Weitererzählung steigerten sich die Geschichten ins Monströse. Dabei hatten es schon die Originalfiguren in sich. Hier eine Leseprobe: »Ljonka Koschelew, genannt Waka, hatte wegen einer Krankheit, deren Namen ›Hodenkryptorchose‹ er nie aussprechen konnte, keine Kinder. Gleichwohl war er geil auf Weiber und, wie einige behaupteten, in dieser Hinsicht unvorstellbar fleißig«. Ähnlich stand es auch um den »krummbeinigen Chalimon«. Dieser prahlte laut Buch überall mit seiner Manneskraft und behauptete, selbst wenn er nüchtern war, er habe es in Kaluschskoje mit ausnahmslos jeder Frau getrieben.

Wikari ließ den Text aus dem Internet löschen, doch es war bereits zu spät. Wie die Webzeitung »Klops.ru« berichtet, kamen rund 20 »Romanfiguren« vor Kurzem abends zu ihrem Haus, beschimpften sie unflätig und wurden sogar handgreiflich. Einige hätten Schlagstöcke bei sich getragen, und so endete das Lesertreffen für die Autorin mit einer Gehirnerschütterung. Nunmehr traute sie sich kaum noch auf die Straße. Im Dorfladen weigerte sich die Verkäuferin ohnehin, sie zu bedienen. Ihre Buchhelden drohten, ihr »die Fresse zu polieren«, und ihr »das Maul mit einem Stiefel zu stopfen«. Weitere Ausdrücke folgten, auf die Wikari in ihrem Buch ob ihrer Derbheit bewusst verzichtet hatte.

Vor einigen Tagen nun floh die Schriftstellerin zu Verwandten nach Tschernjachowsk. Sie hat ihre Geschichte dem zentralen russischen Fernsehen angeboten, das Talkshows aus den skurrilsten Begebenheiten macht. Dabei werden beide Seiten ins Studio eingeladen. Vielleicht hilft das.

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