Der Schönheit dunkle Seite

Vor hundert Jahren erschien Thomas Manns »Der Tod in Venedig«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.
Die »Musik des Untergangs« nimmt Luchino Visconti 1971 in seiner Verfilmung von »Der Tod in Venedig« beim Wort. Ein Geniestreich, der nur dadurch gelingen konnte, dass er den Schriftsteller Aschenbach zu einem Musiker macht (Gustav Mahler war für Mann tatsächlich eine Inspiration für die Figur Aschenbachs gewesen). So sehen und hören wir hier eine Symphonie aus Bildern und Klängen komponiert, der Mahlers Adagietto aus der 5. Symphonie den schwebenden Grundton vorgibt. Der alternde Künstler erkennt sich im schönen Knaben wieder, der ihn auf dionysische Weise in einen Rausch geraten lässt. Doch Tadzio ist nicht nur das Sinnbild des Lebens, auch das des Todes. Viscontis Meisterwerk traf auf verhaltene Kritik, um so mehr freute den Regisseur, dass ihm Golo Mann bescheinigte, dass es »trotz aller Manipulationen«, das erste Mal sei, dass er die Essenz des Werkes seines Vaters in einem Film wiedergefunden habe.

Die Leidenschaft sei eine Schusswaffe, »die losgeht und tötet, wenn man sie für harmlos hält«, schreibt Flaubert. Der Tod ist auch das Schicksal Gustav von Aschenbachs, zweiundfünfzig Jahre alt, der sich in Venedig in einen vierzehnjährigen polnischen Knaben mit langem Haar verliebt. Aber für harmlos hält er diese Leidenschaft keinen Augenblick lang. Er ahnt, was er da als Sinnbild von Jugend und Schönheit vor Augen hat (mit den Augen unablässig verfolgt!), könnte für ihn den Tod bedeuten.

Mehrere Sommer lang ist Thomas Mann nach der Jahrhundertwende Gast im Grandhotel Des Bains auf dem Lido von Venedig. Auch sein Verleger Samuel Fischer und andere Autoren des Verlages finden sich dort ein. Ein stolzes Haus. Bis vor wenigen Jahren im Originalzustand erhalten, mit inzwischen heftig knarrenden Türen und losen Dielen den staubigen Geruch von über hundert Jahren Hotelbetrieb verströmend, wurde es kürzlich Opfer einer Bauspekulation. Nun steht es verlassen und halb entkernt, als weithin sichtbares Mahnmal der Zerstörungswut aus Geldgier vor uns.

Die Sommer sind schwül in Venedig, sie treiben eine eigene Art von Hitzetraum hervor. Und ein solcher ist »Der Tod in Venedig,« der, 1912 in der Neuen Rundschau vorabgedruckt, vor hundert Jahren als jenes schmale Buch erschien, das in Thomas Manns Werk einen so einmaligen Platz einnimmt.

Wie viel von Thomas Mann selber und von Venedig steckt nun in dem Buch? Indirekt hat er darauf schon 1906 geantwortet, als man sich in Lübeck, seiner Geburtsstadt, darüber erregte, dass er in den »Buddenbrooks« noch lebende oder jedenfalls im Gedächtnis der Stadt lebendig gebliebene Mitbürger nicht immer - nach kleinbürgerlichen Maßstäben - vorteilhaft auftreten lässt. Man strengte sogar einen Prozess an. Er und ein heute vergessener Autor namens Bilse, der mit »Die kleine Garnison« für Ärger in der Stadt gesorgt hatte, sollten wegen Rufschädigung angeklagt werden. Mann schreibt nun in »Bilse und Ich« über die Frage, wie authentisch eine Romanfigur ist, der man die Ähnlichkeit zu einer lebenden Person anmerkt. »Du magst als Mensch gut, duldsam, liebevoll, positiv sein, magst eine ganz und gar unkritische Neigung haben, alle Erscheinungen gutzuheißen, - als Künstler zwingt dich der Dämon, zu ›beobachten‹ und mit einer schmerzlichen Bosheit jede Einzelheit zu perzipieren, die im literarischen Sinne charakteristisch ist ...«

Der Blick des Dichters sei darum »zugleich kälter und leidenschaftlicher«. Das betrifft nicht zuletzt die Selbstbeobachtung. Nie wieder wird Thomas Mann so direkt und zugleich auch indirekt über seine Homosexualität sprechen, seine erotische Besessenheit von jungen Männern, halben Kindern noch (für die ihn der Zeitgeist heute erbarmungslos als Pädophilen an den Pranger stellen würde), zum Thema machen. Allerdings hat er diese Obsession niemals ausgelebt, sie wird vielmehr für ihn zum Antrieb seines Schreibens.

Thomas Mann kündigt 1911 in seiner Antwort auf eine Umfrage des »Berliner Tageblatts« über neue literarische Pläne an: »Mich beschäftigt eine ziemlich breit angelegte Novelle, betitelt ›Der Tod in Venedig‹, eine ernste, gewagte und schwer möglich zu machende Sache ...« Die Charakteristik hat es in sich: ernst, gewagt, schwer möglich zu machen. Aber es gibt eine Brücke, die sich Mann baut, ein ihn so intim berührendes Buch überhaupt schreiben zu können. Es ist die Gegenposition zu allem tödlichen Ernst, der darin steckt: der Humor. Im gleichen Jahr notiert er: »Das Wort Humor bezeichnet in einem ursprünglichen Sinne das Feuchte im Gegensatz zum Trockenen. Und ich denke, dass man ihm viel Ehre antut, wenn man sich an diese Definition hält.«

Wenn Venedig, diese in die Lagune hineingebaute Stadt etwas unbedingt ist, dann feucht. Wenn man sich daran erinnert, dass bei den Vorsokratikern von »feuchten und trockenen Seelen« die Rede war - nur den »feuchten« billigte man ein schöpferisches Vermögen zu - dann wird klar, warum ausgerechnet Venedig der Ort der Handlung der Novelle sein musste. Mann meint nicht den derben deutschen Humor, sondern einen »modernen Humor, fern von allem Sichgehenlassen«, der nur die Gestalt »hellsichtiger Ironie« annehmen könne. Diese ironische Distanz in all der schwer wie Lagunen-Nebel auf Aschenbach liegenden Melancholie erlaubt ihm, den »Der Tod in Venedig« überhaupt erst zu schreiben.

Samuel Fischer bekommt dann auch 1912 die sehr gelöst klingende Nachricht übermittelt: »Mein lieber Freund, ich schicke Ihnen eine Geschichte, die etwas seltsam ist. Es ist die homosexuelle Geschichte eines alternden Künstlers, der sich in einen Halbwüchsigen verliebt. Sie werden sagen: Oh!, Oh! Bitte lesen Sie es, denn es ist eine saubere Sache.« Das ist es: Der Trieb, die überbordende Sinnlichkeit steht im Verhältnis zum Geist, und da wird die so intime Angelegenheit Aschenbachs sogleich universell. Der Künstler an einer Zeitenscheide gerät - zwischen Tradition und Avantgarde stehend - in eine Krise, aus der er keinen Ausgang findet, an der er zugrunde geht.

Man kann diese Novelle auch vor dem Hintergrund von Thomas Manns einzigem Versuch lesen, ein Drama zu schreiben. »Fiorenza« wird am deutschen Theater aufgeführt und von Alfred Kerr (der Thomas Mann, in Anspielung auf dessen Homosexualität bescheinigt, beim Verfasser handele es sich um ein etwas »dünnes Seelchen, dessen Wurzel ihre stille Wohnung im Sitzfleisch habe«) brutal vernichtet. Ein Tiefschlag für den Autor, den er fast nicht überwunden hätte. In so einer Situation befindet sich auch Gustav von Aschenbach, als er in Venedig ankommt: Er will sich im Müßiggang von voran gegangenen Aufregungen erholen. »Was er suchte, war das Fremdartige und Bezugslose ...«

Sein Herz ist angegriffen, dennoch nimmt er die Stadt mit allen Sinnen in sich auf. Rausch? In seinem Alter bedeutet das, dem übervollen Leben der anderen zuzuschauen. Anfangs ahnt er nicht, dass gerade die schweifende Unbestimmtheit der Sinne ihn in höchste Gefahr bringt. Allerdings, der oberflächlich gebliebene Reiz ist schnell verflogen: »Was sollte er hier? Er war fehlgegangen.« Venedig kommt ihm halb wie ein Märchen, halb wie eine Touristenfalle vor. Die Stadt lässt ihn immer wieder an den Tod denken, vor allem die allgegenwärtige Gondel: »Das seltsame Fahrzeug aus balladesken Zeiten ganz unverändert übernommen und so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge es sind - es erinnert an lautlose und verbrecherische Abenteuer in plätschernder Nacht, es erinnert noch mehr an den Tod selbst, an Bahre und düsterne Begängnis und letzte, schweigsame Fahrt.«

Dies ist der Ort der letzten großen Leidenschaft Gustav von Aschenbachs zu dem polnischen Jungen Tadzio, der mit seiner Familie ebenfalls im Des Bains wohnt, eine Leidenschaft, die ihm zum Untergang wird. Nie sprechen sie ein Wort miteinander, alles vollzieht sich ausschließlich in der Phantasie. Und da ist Thomas Mann dann ganz bei sich: »Seltsamer, heikler ist nichts als das Verhältnis von Menschen, die sich nur mit den Augen kennen, - Menschen, die täglich, ja stündlich einander begegnen, sich beobachten und dabei den Schein gleichgültiger Fremdheit grußlos und wortlos aufrecht zu erhalten durch Sittenzwang oder eigene Grille genötigt sind.« Und gleichzeitig passiert etwas anderes, die ausbleibende Handlung, von Erfüllung nicht zu reden, wirkt auf den Künstler mit vervielfachter Stärke.

Einmal, als er kurz davor ist, auf Tadzio zuzutreten, was er dann doch nicht vermag, weil sein Herz, »vielleicht auch vom schnellen Gang, wie ein Hammer schlägt, daß er, so knapp bei Atem, nur gepresst und bebend wird sprechen können ... Allein es war wohl an dem, daß der Alternde die Ernüchterung nicht wollte, daß der Rausch ihm zu teuer war.«

Hier mischen sich Eros und Scheu zu einer Zurückhaltung, die die imaginierte Nähe wieder in jene Distanz bringt, sie in ein rein ästhetisches Phänomen verwandelt. Das ist der »Trick« in Manns Novelle, der es ihm erlaubt, diese eine »saubere Sache« zu nennen.

Vor uns steht im »Tod in Venedig« - im Halbschatten verborgen - Thomas Mann selber, der uns in vielen Variationen an der Verwandlung seiner sexuellen Lebenspein, die doch auch Autorenglück ist, teilhaben lässt: »Es ist sicher gut, daß die Welt nur das schöne Werk, nicht auch seine Ursprünge, nicht seine Entstehungsbedingungen kennt; denn das Geheimnis der Quellen, aus denen dem Künstler Eingebung floss, würde sie oftmals verwirren, abschrecken und so die Wirkung des Vortrefflichen aufheben.« Der Eros erfüllt sich für Manns Alter Ego Aschenbach, das Bild des badenden Tadzio vor Augen, im Tod. Eine Verirrung?

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